The Wolf of Wall Street

Es gibt Filme, auf die freut man sich, sie zu sehen, andere hingegen muss man sehen, weil sie von einem Regisseur stammen, den man schätzt, oder weil sie gerade im Gespräch sind oder für die Oscars nominiert wurden – oder alles zusammen…

The Wolf of Wall Street

Jordan Belfort (Leonardo DiCaprio) ist zweiundzwanzig, als er in den späten Achtzigern bei einem Börsenmakler in New York anfängt. Sein Boss Mark Hanna (genialer Auftritt: Matthew McConaughey) nimmt ihn unter seine Fittiche und bringt ihm bei, welche Regeln an der Wall Street gelten – und vor allem, wie man sie brechen und eine Menge Geld mit Aktienhandel machen kann. Nach einem Börsencrash muss Belfort sich allerdings neu orientieren und hat schon bald eine zündende Idee, wie man mit einer eigenen Firma mehr Geld machen kann, als man sich in seinen kühnsten Träumen vorstellt, sofern man sich nicht scheut, dafür auch das eine oder andere Gesetz zu brechen und arglose Bürger über den Tisch zu ziehen…

Dies ist die wahre Geschichte des amerikanischen Traums, hier geht es nicht um den sprichwörtlichen Tellerwäscher, der mit ehrlicher Arbeit, Fleiß und Ausdauer zu Reichtum gelangt, sondern um die Haie und Betrüger, die Gangster im Maßanzug, die geschickt die Gesetzeslücken ausnutzen oder sie bei Bedarf erweitern, um ihre Mitmenschen auszuplündern. Gegen sie sind Al Capone, Bugsy Siegel und andere legendäre Gangster und Mobster die reinsten Waisenknaben. Männer wie Belfort stehen in der Tradition legendärer Raubritter und Finanzmogule, die die Wall Street erfunden und die USA reich gemacht haben – und sich selbst noch viel reicher, sie sind die Hohepriester des Kapitalismus und die Totengräber unserer Gesellschaft.

Was macht sie so faszinierend? Ist es ihre Chuzpe, ihre Skrupellosigkeit oder ihr grenzenloser Hedonismus? Ist es die Faszination des Bösen? Der durchschnittlich anständige und gewissenhafte Kinogänger, der brav seine Steuern zahlt und vielleicht von einem Lottogewinn träumt, käme nie auf die Idee, seine Mitmenschen zu überlisten und ihnen ihre Ersparnisse abzunehmen, um sich selbst zu bereichern, aber er beobachtet gerne den Aufstieg (und Fall) gewissenloser Zeitgenossen, die weniger Skrupel haben. Auf eine gewisse Art bewundert er sie vielleicht sogar, ihren enthemmten Lebensstil, die schönen Frauen an ihrer Seite, die wüsten Orgien, bevor er ihren seelischen Verfall zur Kenntnis nimmt und sie scheitern sieht, um dann beruhigt nach Hause zu gehen, im Bewusstsein, ein rechtschaffeneres, wenn auch langweiligeres Leben zu führen. Man will auf keinen Fall so mies sein wie dieser Jordan Belfort, aber sein Geld hätte man schon gerne…

Und da setzt auch der Held der Geschichte an. Die Gier ist die treibende Kraft des Kapitalismus, in dem es nur um eines geht: Wie kommt das Geld der anderen in meine Tasche? Es ist der schonungsloseste Bericht über die Machenschaften von Börsenmaklern seit Wall Street (das eher lahme Sequel lassen wir mal beiseite), und er erfüllt einen mit Ekel und Abscheu. Im gesamten Film gibt es nicht eine einzige positiv besetzte Figur, mit der man sich identifizieren könnte, und das ist schade. So fehlt ein Anker, eine Rettungsleine zu Realität, und man ist den endlos oft wiederholten Exzessen und Streitereien der Figuren hilflos ausgeliefert. Das ist ein dramaturgischer Ansatz, der mir leider nicht besonders gut gefällt, ich brauche eine Figur, mit der man mitleiden und mitfiebern kann, sonst verliere ich irgendwann das Interesse.

Zum Glück ist Martin Scorsese ein so geschickter Regisseur, dass er einen trotzdem über weite Strecken bei der Stange hält. Der Film hat einige Längen, er wiederholt seine Aussagen zu oft, und die Off-Kommentare sind ebenfalls unnötig, auch wenn die komplizenhaften direkten Ansprachen Belforts ans Publikum ihre Wirkung nicht verfehlen. Einige Szenen sind großartig, die besten des letzten Jahres, andere wiederum strapazieren unendlich die Nerven. Die meisten Szenen mit Jonah Hill zum Beispiel, der zwar nicht schlecht spielt, dessen Figur aber so aufdringlich ist, dass man ihr ein schnelles Ableben wünscht. Auch der Rest des Ensembles agiert großartig, allen voran Leonardo DiCaprio, der wie immer dafür keinen Oscar bekommen hat. Hollywood ist einfach ungerecht.

Das Gute ist, dass die Story auf wahren Begebenheiten basiert, sonst müsste man Drehbuchautor Terence Winter hemmungslose Übertreibung vorwerfen. Das Erschreckende ist, dass die Story auf wahren Begebenheiten basiert und man sich nach dem Film wünscht, nicht zur menschlichen Spezies zu gehören, sondern lieber eine Qualle oder ein Eichhörnchen wäre – oder sich Occupy Wall Street anschließen möchte.

The Wolf of Wall Street ist einer dieser Filme, die man sich anschauen muss. Weil er gut ist, weil er einen bitterbösen Blick auf eine niederträchtige Welt gewährt. Es ist ein Film, der traurig und betroffen macht und hilflos. Es gibt keine Erlösung, keine Hoffnung, keine Läuterung, nur hungrige Wölfe. Er führt sie vor, zeigt ihre Verderbtheit, ihre Skrupellosigkeit, aber er blickt nicht in ihren Seelen. Stattdessen inszeniert er sie geschickt in ihrer Scheinwelt, dass man sie verachtet, aber gleichzeitig auch ein kleines bisschen bewundert. Das ist nicht ungefährlich.

Ihre Opfer kommen nicht vor, all die Lämmer, die von den Wölfen gefressen werden, vermutlich weil der Film dann noch deprimierender geworden wäre. Denn im Grunde wissen wir es alle: Die Lämmer sind wir…

Note: 2-

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.