Die durch die Jauche gehen

Können acht Millionen Deutsche irren? So viele schauen das Dschungelcamp, habe ich gestern gelesen. Ich weiß nicht, ob das pro Folge gilt oder der Durchschnittswert ist, aber diese Zahl geistert durch die Medien. Acht Millionen. Eine Traumquote, ungefähr so viel wie ein Tatort und mehr als Wetten dass…?. Das sind sogar mehr Zuschauer als Fack Ju Göhte! haben wird.

Zur Ehrenrettung dieses Landes und seiner Kultur sollte man betonen, dass immerhin 75 Millionen Menschen nicht eingeschaltet haben. Die Geschmacksverirrten sind also immer noch nicht in der Mehrheit, und der Untergang des Abendlandes steht auch nicht innerhalb der nächsten Tage ins Haus. Und trotzdem – was hat diese Sendung, dieses Format, in dem eine Gruppe Semi-Prominenter sich zum Volldeppen macht, dass es so viele Leute interessiert? Die pointierten Dialoge der Teilnehmer dürften es nicht sein.

Vermutlich wird ein gewisses voyeuristisches Verlangen befriedigt, wenn diese Menschen, die zumindest einmal in der Nähe des Ruhmes waren oder einen schwachen Abglanz davon ergattern konnten, sich durch eine Wanne voller Kakerlaken wühlen oder frittierte Würmer essen müssen. Der Sturz des Mächtigen und die Erniedrigen des Herausragenden. Was früher der Pranger, ist heute das Dschungelcamp, nur dass man nicht unbedingt etwas angestellt haben muss. Obwohl manche Kandidaten wohl so unsympathisch sind, dass man gerne Zeuge ihres Elend wird.

Außerdem werden sie ja nicht dazu gezwungen, sondern erniedrigen sich auch noch freiwillig. Gegen Geld und eine Aufwertung ihrer Person durch öffentliche Wahrnehmung. Frei nach dem Motto: Ich kann vielleicht sonst nichts, aber ich bin im Fernsehen durch eine Grube voller Schleim gekrochen, also bewundert mich. Wenn laut Warhol jeder für fünfzehn Minuten berühmt sein kann, ist es dann nicht traurig, dass sie ausgerechnet dafür berühmt sind?

Da ich so gut wie nie RTL einschalte, hätte ich von dem neuerlichen Unterhaltungs-Tiefpunkt nichts mitbekommen, wenn Spiegel online nicht darüber berichten würde. Ausgerechnet unter der Rubrik Kultur! Selten so gelacht. Oder, um es mit Tucholsky zu sagen: „Ich kann gar nicht so viel fressen wie ich kotzen möchte.“ Dass Fischeinwickelproduzenten wie Bild ausführlich und mit vielen Fotos von dem Spektakel berichten, wundert einen nicht, aber vom Spiegel hätte ich doch etwas mehr Niveau erwartet. Andererseits hatten sie schon häufiger Themen, die vom Boulevard falsch abgezweigt sind und sich in der Sackgasse des schlechten Geschmacks verirrt haben.

Keine Angst, jetzt ist es erst einmal genug mit dem O Tempora, o mores-Gewäsch. Ich habe diesen „Schnellcheck“ dann tatsächlich gelesen, und meine erste Frage war: Wer sind eigentlich diese ganzen Leute? Sollte ich Julian F. M. Stöckel kennen oder schon einmal etwas von Michaela Müller gehört haben? Sind diese Leute wirklich berühmt, und wenn ja, wie konnte das passieren? Zum Glück hat Spiegel online auf seiner Seite eine kurze Übersicht mit den wichtigsten Fakten zu den Campern, sonst könnte ich vermutlich vor Neugier nicht mehr schlafen.

Sollte RTL je auf die Idee kommen, ein Dschungelcamp für den Otto Normalverbraucher zu etablieren, am besten mit einer Castingshow vorweg, in der man sich für den Einsatz im Ekel-TV bewerben darf, der Ansturm wäre vermutlich gewaltig. Lauter Leute, die ganz heiß darauf sind, sich vor laufender Kamera mit Maden überschütten zu lassen oder durch eine Jauchgrube zu waten. Das sind dann vermutlich dieselben Menschen, die sich auf der Straße weigern, den Haufen ihres Hundes wegzumachen oder ihren Kaugummi in den Abfalleimer zu spucken. Oder noch besser: Am besten schickt man gleich die kompletten Jahrgänge von Deutschland sucht den Superstar in den Dschungel, dann hätte man gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen und endlich eine Zweitverwendung für all diese Superstars.

So, nun ist es amtlich: Ich bin alt, spießig und humorlos und sollte zur Strafe das Dschungelcamp anschauen. Immerhin können acht Millionen Deutsche doch nicht irren, oder? Und wer weiß, vielleicht wird das Format ja noch mit einem Grimme-Preis ausgezeichnet?

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.