All eure Gesichter

Der Film wurde als französisches Arthaus-Schmankerl angepriesen, und auch der Trailer sah ziemlich gut aus. Die Kritiken waren überdurchschnittlich gut, der Film wurde für etliche Césars nominiert, erhielt letzten Endes aber nur einen, und im Kino ging er komplett an mir vorbei. Das passiert mir leider häufiger in letzter Zeit. Aber vor einer Weile ist die Produktion bei Wow erschienen, und an einem ruhigen Abend habe ich mir endlich die Zeit für ihn genommen.

All eure Gesichter

Im Rahmen der Restorative Justice werden unter der Aufsicht von Psychologen Straftäter mit den Opfern von ähnlichen Gewaltverbrechen zusammengebracht, um über ihre jeweilige Situation zu diskutieren, den Ursachen von Gewalt und Verbrechen sowie deren Auswirkungen auf die Beteiligten nachzuspüren. So treffen Nawelle (Leïla Bekti), Sabine (Miou-Miou)und Grégoire (Gilles Lellouche), die Opfer von Raubüberfällen waren, in einem Gefängnis auf Nassim (Dali Benssalah), Issa (Birane Ba) und Thomas (Fred Testot), die wegen bewaffneten Raubes einsitzen. Parallel bereitet die Psychologin Judith (Élodie Bouchez) das Treffen zwischen Chloé (Adèle Exarchopoulos) und ihrem Bruder Benjamin (Raphaël Quenard) vor, der sie als Kind vergewaltigt hat und nun aus der Haft entlassen wurde.

Seit 2014 ist die Restorative Justice in Frankreich gesetzlich verankert und Teil der Rechtsordnung. Mit Wiedergutmachungsverfahren ist der Begriff jedoch nur unzureichend übersetzt, umfasst er doch mehr als bloße Restitution materieller oder immaterieller Schäden. In Deutschland wird das Verfahren, bei dem Täter und Opfer zusammengebracht werden, um, teilweise auch außergerichtlich, nach einer für alle Parteien annehmbaren Lösung in Streitfällen zu suchen, Täter-Opfer-Ausgleich genannt. Das Ganze findet auf einer sehr viel persönlicheren Ebene statt als ein Gerichtsverfahren, birgt dadurch aber auch größere Gefahren. Deshalb werden Psychologen und Sozialarbeiter hinzugezogen, die dafür sorgen, dass die Interessen sämtlicher Parteien gewahrt bleiben.

So beginnt der Film von Jeanne Herry, die auch das Drehbuch geschrieben hat, mit der Ausbildung der Mediatoren, um dann ein Jahr später zu zeigen, wie diese das erworbene Wissen in die Praxis umsetzen. An den Gesprächen im Gefängnis nehmen neben den jeweils drei Tätern und Opfern auch drei Psychologen oder ehrenamtliche Unterstützer teil – ein Aufwand, der enorm ist und vermutlich durch seine hohen Kosten dazu beiträgt, von manchen kritisch betrachtet zu werden. Tatsächlich wird an einer Stelle angedeutet, dass der Erfolg dieser Aktion entscheidend dazu beitragen wird, das gesamte System zu stärken – oder es zu beenden.

Herry erzählt aber nicht von der Einführung der Restorative Justice oder ihrer Bewährungsprobe, sondern konzentriert sich vor allem auf die Beteiligten, vor allem auf die Täter und Opfer. Man lernt sie, wie sie sich gegenseitig auch, erst im Verlauf der Sitzung kennen, wenn sie ihre Geschichten erzählen und sich mit den anderen austauschen. Gerade diese persönlichen Erlebnisse besitzen eine ungeheure Intensität, der man sich nicht entziehen kann – obwohl sie relativ nüchtern vorgetragen werden.

Herry konzentriert sich ganz auf das Gespräch, nur sehr selten wird einmal eine kurze Rückblende gezeigt, aber nie das jeweilige Verbrechen, um das es dabei geht. Als Zuschauer soll man sich ganz allein auf das Gesagte und die Menschen konzentrieren. Zusammen mit den Opfern erlebt man deren Traumata erneut, während man mit den Tätern zusammen zu ergründen sucht, was sie dazu bewogen hat, zur Gewalt zu greifen. Vieles hat man so oder so ähnlich bereits gehört, aber die hervorragenden Darsteller schaffen es, die Schilderungen und Geständnisse so anschaulich und faszinierend zu gestalten, dass man keine aufwändigen Rückblenden benötigt.

Die Inszenierung ist entsprechend nüchtern, man sieht vor allem Menschen im Gespräch, die relativ eloquent und reflektiert über ihre Erfahrungen reden. Konflikte brechen so gut wie gar nicht auf, nur einmal kommt es zu einer Konfrontation zwischen Tätern und Opfern. Das liegt daran, dass für das Programm nur Personen ausgewählt werden, die, als Täter, entsprechend Reue zeigen und sich ändern wollen, oder, als Opfer, bereit sind, nach Verständnis, vielleicht sogar Vergebung zu streben. Obwohl hier ein wenig die Leidenschaft, die wilde Emotion fehlt und alle sehr analytisch und rational argumentieren, enthalten die Szenen durchaus eine gewisse Spannung.

Alle Figuren machen eine Entwicklung durch, schaffen es, ihre Traumata zu überwinden und sich ihren Ängsten zu stellen, bzw. ihre Einstellung zu ihren Taten zu ändern und neue Perspektiven zu entwickeln. Die gesamte Geschichte strahlt durchweg eine Positivität und Hoffnung aus, dass man gewillt ist, dem Projekt bedenkenlos zuzustimmen. Nur werden die schweren Fälle, die unbelehrbaren Kriminellen und Psychopathen, die es ja auch gibt und an denen das System scheitern muss, ausgeblendet, ebenso die schwer traumatisierten Opfer. Die Grenzen der Restorative Justice, die es sicherlich gibt, tauchen nicht auf.

Während im Gruppengespräch Täter und Opfer diskutieren, die nichts miteinander zu tun hatten, geht es in der Parallelgeschichte um eine direkte Konfrontation zwischen einer jungen Frau und ihrem Vergewaltiger, der auch noch ihr Bruder ist. Hier hätte sich angeboten, intensiver zu erzählen, stärker auf die Emotionen der Beteiligten einzugehen, doch Herry lässt dies weitgehend außen vor und setzt ganz auf strikte Regeln und die Kraft der Psychologie. Auch das ist faszinierend geschildert, jedoch etwas blutarm.

Die Psychologen selbst spielen nur untergeordnete Rollen, man erfährt gelegentlich etwas über sie, aber als Figuren bleiben sie statisch und letzten Endes austauschbar. Was in Erinnerung bleibt, sind die persönlichen Geschichten und vor allem die Schicksale der Opfer. Trotz der eher nüchternen Darstellung und der Konzentration auf den Dialog entsteht eine starke, psychologisch fundierte und spannende Geschichte, die nur sehr wenige Längen besitzt. Ein faszinierender Film über eine ganz andere Art von Rechtsprechung, die über eine persönliche Aussprache und psychologische Betreuung zu Versöhnung und Verständnis zu gelangen versucht. Sehenswert.

Note: 3

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.