Adolescence

Normalerweise beschäftigen sich InsideKino und dieser Blog mit Kinofilmen, aber, wie ich schon in meinem Jahresrückblick ausgeführt habe, schreibe ich auch immer wieder über Streamingfilme und gelegentlich sogar über Serien. Zumindest wenn sie gerade einen großen Hype verursachen. Adolescence ist so eine Serie, die seit ihrem Erscheinen bei Netflix für mediale Aufmerksamkeit sorgt und inzwischen, laut dem Streamingdienst, sogar beliebter als Stranger Things ist.

Wenn etwas so übermäßig erfolgreich ist und nicht nur Kritiker, sondern auch Zuschauer zu Beifallsstürmen hinreißt, macht mich das immer neugierig. Also habe ich mir vergangenes Wochenende diese britische Miniserie angesehen. Wer dies noch nicht getan hat, sei vor Spoilern gewarnt. Über den Inhalt ist zwar inzwischen fast alles bekannt, aber manchmal möchte man sich ja unbeeinflusst eine Meinung bilden. Daher: Lesen auf eigene Gefahr.

Adolescence

Eines Morgens dringt ein Großaufgebot von Polizisten unter Leitung von DI Bascombe (Ashley Walters) und DS Frank (Faye Marsay) in das Haus des Klempners Eddie Miller (Stephen Graham) ein, um dessen 13jährigen Sohn Jamie (Owen Cooper) wegen des Mordes an einer Mitschülerin zu verhaften. Danach wird für die Familie nichts mehr sein wie zuvor.

Ist Adolescence eine Krimi-Miniserie? Es geht zwar um einen Mord, aber es gibt keinerlei Ermittlungen. Der Fall ist von Anfang an sonnenklar, denn die Tat wurde von einer Überwachungskamera aufgezeichnet. Bascombe und Frank suchen noch nach der Tatwaffe, einem Messer, um den Fall wasserdicht zu machen, und sie hoffen auch, Jamie zu einem Geständnis zu bewegen. Doch der Junge leugnet vehement und bricht bei der Konfrontation mit dem Video schließlich zusammen. Auch die Frage nach dem Motiv bleibt zunächst unbeantwortet. Alles in allem geht es aber weniger um den Mord, sondern was er mit den Beteiligten anstellt, in erster mit Jamie und seiner Familie, teilweise auch mit den Schülern an seiner Schule. Adolescence ist also in erster Linie ein Sozialdrama.

Was das Projekt unterscheidet ist das Format, denn jede einzelne der vier Episoden wird in einer einzigen Einstellung erzählt. Dadurch wird eine gewisse Authentizität erzeugt, eine Unmittelbarkeit in der Erfahrung, da alles in Echtzeit geschieht. Gerade die erste Folge ist dadurch sehr dicht erzählt. Man folgt der Polizei ins Haus der Familie, dann Jamie aufs Revier, durch den erkennungstechnischen Prozess bis ins Verhörzimmer, wo er, unterstützt von seinem Vater, Rede und Antwort stehen muss und man alles über die Tat erfährt. Das ist spannend gemacht und gerade gegen Ende ungeheuer beklemmend.

Wirklich neu ist das Konzept nicht. Die Serie E.R. hat es bereits vor über zwanzig Jahren vorgemacht und damit an die Tradition des Live-Fernsehen früherer Jahrzehnte angeknüpft, und im Kino hat man dieses One-Take-Format ebenfalls schon beobachten können. Tatsächlich sind die technischen Möglichkeiten heute so gut, dass man nicht einmal in einer einzigen Einstellung drehen muss, sondern verschiedene Einstellung so geschickt montieren kann, dass sie wie eine einzige wirken. Man muss aber feststellen, dass dieser Kniff der Mini-Serie etwas Besonderes verleiht.

Leider steht diese Technik dem Inhalt bisweilen im Weg. Gerade parallele Entwicklungen, unterschiedliche Perspektiven und Zeitsprünge sind so schlichtweg nicht möglich. Als Zuschauer erlebt man die quälende Langsamkeit des Lebens hautnah mit. Das gilt vor allem für die zweite und vierte Episode, wenn man als Zuschauer einmal mit den Polizisten durch den Schulalltag geistert und die Befragungen von Jamies Klassenkameraden verfolgt und zuletzt eine Stunde im Leben von Jamies Familie erlebt. Daher haben die Produzenten versucht, jeder Episode einen Schwerpunkt zu geben: In der ersten geht es um die Verhaftung, in der zweiten, die drei Tage später spielt, um die Befragung der Mitschüler, in der dritten um ein Gespräch zwischen Jamie und einer Psychologin (Erin Doherty) sieben Monate später und zuletzt um die Familie dreizehn Monate nach der Tat.

Wirklich gelungen sind nur Folge eins und drei. Hier gehen Form und Inhalt Hand in Hand, und man wird als Zuschauer in ein Wechselbad der Gefühle geworfen. Zwar wirkt vieles nicht realistisch, etwa das Tempo, in dem die Ermittler ihre Arbeit abgeschlossen haben, oder dass sowohl das Haus der Familie als auch das Büro des Pflichtverteidigers praktisch neben der Polizeiwache liegen und es somit keine langen Fahr- oder Wartezeiten gibt. Wer schon einmal mit einem Kriminalbeamten gesprochen hat, weiß, dass man in diesem Beruf vor allem eines braucht: eine Menge Geduld.

Aber wollen wir mal nicht päpstlicher sein als der Papst. Inszenatorisch ist die Serie top, auch die schauspielerischen Leistungen sind durchweg solide, im Fall von Owen Cooper sogar phänomenal. Seit Jahren hat man wohl keinen so guten Kinderdarsteller mehr gesehen, und gerade die dritte Episode, in der es allein um Jamie und sein Verständnis der Tat geht, ist ungeheuer intensiv: In manchen Momenten wirkt Jamie wie ein kleiner, verängstigter Junge, dann wiederum ist er ungeheuer manipulativ, geradezu diabolisch, um plötzlich einen gewalttätigen Anfall zu bekommen.

So gut jedoch Jamie dargestellt wird, die Frage nach seinem Motiv bleibt die ganze Zeit im Ungefähren. Durch seinen Sohn wird Bascombe darüber aufgeklärt, was die Emojis in Jamie Instafeed bedeuten, mit denen das Opfer einige seiner Posts kommentiert hat. Es gibt Hinweise auf die frauenhassende Incel-Community und deren obskure Weltsicht, die von Leuten wie Andrew Tate befeuert wird. Aber kann ein Dreizehnjähriger wirklich schon ein Incel sein? Jamie selbst sieht sich selbst als hässlich und unsportlich, als uncool und damit uninteressant für Mädchen, aber immer wenn man das Gefühl hat, dem Kern seines Charakters nahezukommen, wird wieder abgelenkt. Letzten Endes fehlt eine wirklich befriedigende Antwort, eine klassische Rekonstruktion, wie es zu diesem Verbrechen kommen konnte, oder zumindest eine entlarvende Schlüsselszene. Vielleicht ist diese Unsicherheit auch von den Autoren beabsichtigt, erzeugt sie doch bei allen Zuschauern, vor allem aber bei den Eltern, ein Unbehagen und fördert somit ein Nachdenken über die Frage, wie gut man seine Kinder wirklich kennt und weiß, was sie den ganzen Tag und vor allem im Internet treiben.

Von der letzten Folge erwartet man sich daher noch einige Aufklärung, aber diese enttäuscht auf ganzer Linie. Es dreht sich nur um Jamies Familie und wie sie mit der Stigmatisierung umgeht. Dabei erfährt man immerhin ein wenig über seinen Vater, der in einem gewalttätigen Elternhaus aufgewachsen und selbst jähzornig ist, aber ein liebevolles Verhältnis zu Frau und Tochter hat. Ein Incel ist er sicherlich nicht – es sei denn, er lügt, wenn er sagt, dass rein zufällig ein Tate-Video auf seinem Handy aufgepoppt ist. Auch über die relativ lasche Erziehung wird einiges erzählt, durch die Jamie weitgehend sich selbst überlassen wurde. Eine Erklärung ist das aber auch nicht.

Ärgerlich an der Geschichte ist vor allem eines: In der zweite Episode erklärt DS Frank, dass sie an diesen Taten am meisten verärgert, dass es ausschließlich um den Täter geht, um seine Motive, seine Geschichte, das Opfer aber vergessen wird. Auch die beste Freundin des ermordeten Mädchens wird eingeführt und scheint einiges über die Hintergründe zu wissen, sie geht wütend Jamies beste Freunde an, von denen einer sogar verhaftet wird. Aber das alles führt zu nichts, man erfährt nicht einmal, ob die Polizei mehr über diese vermeintliche Komplizenschaft herausfindet. Und das Opfer ist vergessen. Noch schlimmer: Jamie und seine Freunde beschuldigen es in klassischer Täter-Opfer-Umkehr sogar mehrfach des Mobbings, und auch dies wird nie aufgeklärt oder richtiggestellt. Das ist ein schweres Versäumnis, das die Aussage der Serie unterminiert.

Adolescence ist insgesamt ein gutes Drama, zumindest zur Hälfte, das vor allem von seiner ambitionierten Produktion lebt. Letzten Endes wurden aber zugunsten der Form zu viele Abstriche beim Inhalt gemacht, so dass man sich beim finalen Abspann unwillkürlich fragt: Und dafür jetzt der ganze Hype? Dennoch ist die Mini-Serie absolut sehenswert.

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.