Seit ihrer Uraufführung schlägt die Produktion Wellen in der Filmwelt, wurde gefeiert und verrissen, zum Spielball anti-liberaler Politik und zuletzt Opfer einer Schmierenkampagne, die erneut einen ekelhaften Schmutzfleck auf den Oscars hinterlässt. Unsere Welt ist ein beklagenswerter Ort geworden, und man möchte am liebsten seine Tage im Bett verbringen, die Decke über den Kopf ziehen und von den friedlicheren, hoffnungsvollen Neunzigern träumen.
Aber Nostalgie ist eine gefährliche Droge, die besser nur in kleinen Dosen genossen wird. Nach all den Widersprüchen, die über Emilia Pérez bekannt geworden sind, war ich einerseits neugierig auf den Film, andererseits hatte ich Angst, ihn zu sehen. Ein Bekannter, der ein Hardcore-Arthouse-Junkie ist und dem kein Film zu sperrig oder künstlerisch ambitioniert sein kann, beschrieb ihn, „als hätte Jacques Demy Scarface inszeniert“. Ich wusste dennoch nicht wirklich, was mich im Kino erwarten würde.

Emilia Pérez
Rita Moro Castro (Zoë Saldaña) ist eine frustrierte, aber begabte Anwältin in Mexiko Stadt, die ihrem Boss dabei helfen muss, einen mutmaßlichen Gattinnenmörder freizubekommen. Als sie ein Angebot erhält, viel Geld zu verdienen, wenn sie sich mit einem berüchtigten Kartellchef trifft, sagt sie zögernd zu. Manitas del Monte (Karla Sofia Gascón) eröffnet Rita, dass er transsexuell ist und seine kriminelle Vergangenheit hinter sich lassen will, um zukünftig als Frau leben zu können. Rita geht auf den Deal ein, arrangiert heimlich ein Treffen mit einem Chirurgen und die Flucht von Manitas Familie aus Mexiko. Während seine Frau Jessi (Selena Gomez) und die beiden Kinder ein neues Leben in der Schweiz beginnen, inszeniert Manitas seinen Tod. Vier Jahre später trifft Rita in London eine geheimnisvolle Frau namens Emilia Peréz, die sich ihr als der frühere Manitas zu erkennen gibt – und einen neuen Auftrag für sie hat.
Autor und Regisseur Jacques Audiard wollte seine Geschichte, die lose von einer Nebenfigur im Roman Ècoute inspiriert wurde, ursprünglich als Oper inszenieren und hat sein Drehbuch an der entsprechenden Dramaturgie ausgerichtet, aber letzten Endes seinen Plan aufgegeben und „nur“ ein Musical daraus gemacht. Zumindest in der ersten Hälfte, insbesondere im ersten Akt, ist der Film tatsächlich ein reines Musical, in dem ausgesprochen viel gesungen und getanzt wird. Die Choreografien sind jedoch angenehm zurückhaltend und eher am modernen Ballett als am Broadway-Musical angelegt, so dass sie sich beinahe natürlich in die Szenen einfügen. Und sogar die Gesangseinlagen, die meist die Gedanken und Gefühle der Protagonisten widerspiegeln, wirken nicht aufgesetzt. Für ein Musical wirkt das alles erstaunlich organisch und in sich stimmig.
Da spielt es auch keine Rolle, dass manche Dinge, etwa der Prozess, den Rita am Anfang führen muss, eher auf der Behauptungsebene funktionieren und nicht wirklich gut durchdacht sind. Die eigentliche Story beginnt sowieso erst mit dem faustischen Pakt, den die Anwältin eingeht, gefolgt von ihren Bemühungen, Manitas‘ Wünschen nachzukommen. Der Drogenboss selbst spielt praktisch keine Rolle.
Das ändert sich erst, wenn Manitas dem Arzt seine psychischen Probleme schildert, das Leid, im falschen Körper geboren worden zu sein, noch dazu in einer höchst gewalttätigen Umwelt, in der übertriebene Grausamkeit und ein expliziter Machismus unabdingbar sind, wenn man überleben will. Auch das wird gut geschildert, man fragt sich aber durchaus, warum Audiard seine Geschichte nicht viel früher angesetzt hat. Zu sehen, wie Manitas aufwächst und eine Karriere als Verbrecher startet, dabei aber immer vor allen sein Geheimnis hüten muss, wäre sicherlich spannend gewesen.
Tatsächlich wollte Audiard sich vor allem auf die Frau konzentrieren, die wie ein Schmetterling aus Manitas altem Körper schlüpft. Man lernt Emilia Pérez wie eine Verführerin kennen, die Rita erneut umgarnt, diesmal mit den Waffen einer Frau und nicht mit der Brutalität eines Gangsters. Die Anwältin, die bald zu einer engen Freundin wird, soll ihr helfen, wieder in Kontakt mit ihren Kindern zu treten. Rita arrangiert ein Treffen zwischen Jessi und den Kindern und Emilia, die sie als Manitas‘ Cousine vorstellt. Jessi erkennt ihren früheren Mann nicht, und Emilia hat anscheinend auch keinerlei Gefühle mehr für sie. Diese Familienzusammenführung birgt so viele Geheimnisse und damit Potential für Konflikte, dass sofort ein Spannungsfeld entsteht und man wissen will, wie die Story weitergeht. Auch musikalisch kann Audiard immer noch punkten, etwa in einer sehr bewegenden, intimen Szene zwischen Emilia und einem Kind, das an ihr den Geruch des vermeintlich verstorbenen Vaters wahrnimmt.
Leider beginnt der Film, der bis zu diesem Punkt nichts falsch gemacht hat, sondern durchweg faszinierend und toll gemacht war, an dieser Stelle plötzlich zu schwächeln. Der Fokus verlagert sich immer weiter auf Emilia, ohne zu erzählen, wie es ihr in ihrem neuen Leben ergangen ist oder wie sie mit ihrer neuen Identität zurechtkommt. Was noch schlimmer ist: Es mangelt trotz guter Ansätze an brauchbaren Konflikten. So schlingert die Geschichte orientierungslos dahin und bekommt Längen, und da es auch immer weniger Musicalmomente gibt, verliert sie auch ihren Charme.
Stattdessen nimmt die Story eine politische Wende, wenn Rita und Emilia auf eine trauernde Frau treffen, die wissen will, was aus ihrem verschwundenen Jungen geworden ist. Plötzlich will Emilia ihre früheren Verfehlungen wieder gutmachen und gründet eine Organisation, die nach dem Verbleib dieser Verschwundenen forscht. An sich eine gute Idee, auch teilweise berührend umgesetzt, entwickelt sich auch daraus kein Konflikt. Niemand erkennt in Emilia den ehemaligen Kartellchef, niemand fragt sich, woher diese schwerreiche Transfrau auf einmal kommt. Dafür geht es um Korruption, Massenmorde und Mexiko als Mafiastaat, was in dem Land gar nicht gut angekommen ist, weil nur Klischees bedient werden.
Erst gegen Ende nimmt die Geschichte noch einmal eine leidlich gut vorbereitete Wendung, durch die wieder Spannung aufkommt, bevor sie ihr unvermeidlich tragisches Ende nimmt, was einen leider ziemlich kalt lässt. In erster Linie liegt das an den Figuren, über deren charakterliche Entwicklung viel zu wenig erzählt wird. Dabei hat Audiard mit Emilia eine Figur an der Hand, die eine höchst ungewöhnliche Reise hinter sich bringt, von tiefster Dunkelheit psychischer Verzweiflung und Deformation und einem Leben voller Gewalt und Grausamkeit hin zum Licht, zu Selbsterkenntnis und Selbstfindung und einem Leben im Dienst der Mitmenschlichkeit und Güte. Nur wird alles das emotional nicht erfahrbar und ist aufgrund psychologischer Defizite nicht glaubwürdig genug erzählt.
Emilia Pérez ist ein ungewöhnlicher und visuell und inszenatorisch sogar mutiger Film, dem jedoch nach seinem sehr gelungenen ersten Drittel leider die Puste ausgeht, weil er in letzter Konsequenz nicht radikal genug ist. Schade. Dennoch überwiegt der gute Eindruck, es gibt einige herausragende Szenen, die Schauspieler agieren durch die Bank vorzüglich, und auch visuell macht der Regisseur vieles richtig.
Note: 3+