Gegen Ende meiner Schulzeit begann meine mehrere Jahre andauernde Musical-Phase, in der ich mir Aufführungen von Hair, Cats, Das Phantom der Oper, 42nd Street und Miss Saigon auf der Bühne (meistens in Wien) angesehen habe, bevor meine Leidenschaft mit Die Schöne und das Biest schlagartig wieder erlosch. Es war eine heftige Liebe, aber nur von kurzer Dauer.
Mit Musical-Verfilmungen hatte ich dagegen schon immer meine Probleme. Ob es nun die Klassiker aus dem goldenen Zeitalter Hollywoods waren oder neuere Stücke, es ist einfach nicht mein Genre. Zu viel Gesang und so, was zugegebenermaßen unvermeidlich ist. Daher war ich auch nicht allzu neugierig, als Wicked angekündigt wurde. Natürlich wusste ich, dass das Stück ein riesiger Erfolg am Broadway ist, aber ich habe mir beispielsweise bis heute auch nicht die Verfilmung von Hamilton angeschaut.
Hinzukommt, dass ich auch kein großer Fan von Der Zauberer von Oz bin, den ich als Kind einmal im Fernsehen gesehen und mich schon damals gefragt habe, warum er ein großer Klassiker sein soll. Immerhin habe ich einmal eines der vielen Bücher der Romanreihe gelesen, kann mich aber auch nicht mehr an den Inhalt erinnern.
Dennoch gehören sowohl die Romanvorlage als auch die Filmadaption von 1939 zur Populärkultur und sind Gegenstand interessanter Debatten und Anekdoten: Dass die Kostümbildner in einem Laden für gebrauchte Kleidung einen Mantel erstanden haben, der zufälligerweise dem Autor L. Frank Baum gehört hat, ist noch eine der netteren Schnurren. Von den Dreharbeiten selbst gibt es jede Menge Horrorgeschichten zu berichten, über giftiges Make-up, das die Gesundheit des ersten Darstellers des Zinnmanns dauerhaft ruiniert hat, oder die Schauspielerin der bösen Hexe des Westens, die in Flammen aufging (ironisch, wenn man bedenkt, dass die Figur durch einen Eimer Wasser getötet wird), und der verwendete Kunstschnee bestand aus tödlichem Asbest. Von den Misshandlungen, die Judy Garland davongetragen hat, ganz zu schweigen. Nur die Leiche eines Erhängten, die in einer Szene zu sehen sein soll, hat sich als Mythos erwiesen.
Auch über L. Frank Baums Roman kursieren einige Interpretationen, von denen eine, die in den Fünfzigerjahren aufkam, behauptet, die Geschichte sei eine Allegorie auf die Politik der Populist Party, die sich gegen den Goldstandard (the yellow brick road) aussprach und besonders von den Farmern (der Vogelscheuche) unterstützt wurde. Es macht Sinn, wenn man sich näher damit beschäftigt, ist aber völlig irrelevant.
Mark G. und ich hatten die Möglichkeit, Wicked im Rahmen einer kleinen Tradeshow lange vor Start anzuschauen, was wir uns natürlich nicht entgehen lassen wollten.
Wicked
Die böse Hexe des Westens wurde von Dorothy besiegt, die sich mit ihren Gefährten auf den Weg zur Smaragdstadt macht, während Glinda (Ariana Grande) den Jubel der begeisterten Menschen entgegennimmt. Auf ihre gemeinsame Vergangenheit mit der Schurkin angesprochen, erinnert sie sich an ihre Zeit in der Gliss-Universität und die grünhäutige Elphaba (Cynthia Erivo), mit der sie sich einst ein Zimmer teilte.
Als Maggie Thatcher starb, schnellte der Song „Ding-Dong! The Witch Is Dead“ aus Der Zauberer von Oz an die Spitze der Charts, ein etwas fieser Kommentar der Menschen im Vereinigten Königreich zum Ableben ihrer früheren, verhassten Premierministerin. Die Frage, ob Thatcher gut oder böse war, war immer eine Frage des politischen Standpunkts, und so ähnlich verhält es sich auch mit Elphaba, aus der schließlich die verhasste böse Hexe des Westens wird. Die meisten Bewohner von Oz hassen sie, weil es ihnen von der Obrigkeit so vermittelt wurde, aber kann man der Propaganda des Zauberers glauben? Und welche Rolle spielt Glinda die Gute in der Geschichte?
Gregory Maguire, der 1995 die Romanvorlage schrieb, und Winnie Holzmann, die das Werk für die Bühne adaptierte und nun mit Stephen Schwartz das Drehbuch verfasste, stand vor dem Problem, dass nun wirklich jeder die Geschichte von Der Zauberer von Oz kennt und weiß, wie die böse Hexe des Westens ums Leben kommt. Daher ist der Kniff, ausgerechnet die Schurkin zur Heldin der Vorgeschichte zu machen und zu erzählen, wie sie zur Tyrannin von Oz wurde, geradezu genial, weil er das übliche Gut-Böse-Schema in Frage stellt und darüber hinaus einige interessante Themen anschneidet.
Schon Elphabas Zeugung ist voller Rätsel, hat ihre Mutter eine Affäre mit einem geheimnisvollen Fremden, der ihr eine grüne Flasche gibt, die das Mädchen später als Andenken bewahrt und deren Inhalt vermutlich für ihre Hautfarbe verantwortlich ist. Natürlich ahnt man bereits, wer der rätselhafte Liebhaber ist, so wie die Geschichte insgesamt sehr vorhersehbar ist, aber diese Elemente passen gut zum märchenhaften Charakter der Story.
Elphaba wird wegen ihrer Hautfarbe von Anfang an ausgegrenzt und schlecht behandelt. Ihr Vater schickt sie fort, vermutet vielleicht sogar, dass sie nicht seine leibliche Tochter ist, und weil er sie nicht lieben kann und sein nächstes Kind vor einem ähnlichen Schicksal bewahren will, beschwört er eine Tragödie herauf, an der Elphaba beinahe zerbricht. Schon die Backstory, die sich nur nach und nach enthüllt, ist voller Drama und Not.
Die Komplexität der Figuren unterscheidet sich wohltuend von anderen, eher lieblosen Fantasyerzählungen und ist wohl in erster Linie dem Roman zu verdanken. Cynthia Erivo verleiht der tapferen, unerschütterlichen und moralisch integren Elphaba eine schüchterne Verletzlichkeit, durch die man die Figur sofort ins Herz schließt, lässt aber auch die Macht, Wut und Stärke durchschimmern, die tief in ihr schlummern. Denn Elphaba ist eine mächtige Magierin.
Glinda, die zu dem Zeitpunkt noch Galinda heißt, kommt hingegen eher schlecht weg. Sie ist verwöhnt, egoistisch und oberflächlich, aber so zuckersüß und rosig, dass man ihr vieles verzeiht, sogar ihre hässliche Eifersucht auf Elphabas Fähigkeiten. Die Menschen liegen ihr zu Füßen, und weil sie so hübsch ist, kann sie nur gut sein. Oder? Tatsächlich gelingt es Glinda oft, manchmal bewusst, manchmal unbewusst, ihren Egoismus als Altruismus zu tarnen und so stets als Überlegene und als Vorbild dazustehen. Glinda ist eine ambivalente Figur, die sich langsam charakterlich weiterentwickelt und ein bisschen besser wird, während Elphaba ein bisschen schlechter wird. Sie sind das moralische Ying und Yang der Geschichte, die, obwohl zunächst verfeindet, schließlich Freundinnen werden. Diese Dynamik funktioniert sehr gut, man kennt sie jedoch aus etlichen Highschool-Filmen über Außenseiter, die von den Schönheitsköniginnen und ihrem Gefolge gemobbt werden.
Gerade die erste Hälfte des Films, die von Elphabas Jugend und der Ankunft der jungen Frauen in Gliss sowie ihrer Rivalität handelt, zieht sich ein wenig in die Länge. Dazu tragen auch die vielen – viel zu vielen – Songs bei, die zwar nett anzuhören sind, aber nicht im Ohr bleiben. Abgesehen von einem Lied („Defying Gravity“), das es so weit zu allgemeiner Bekanntheit gebracht hat, dass sogar ich davon gehört habe, erreicht keines das Niveau eines Ohrwurms. Es ist vielleicht eine altmodische Ansicht, aber sollte man nicht, wenn man das Kino nach einem Musical verlässt, ständig die Melodien vor sich hinsummen?
Vergleicht man den Inhalt des Romans (bei Wikipedia) mit dem der Bühnenadaption bzw. deren Verfilmung, fallen einem sofort die vielen Freiheiten auf, die sich die Autoren nehmen. Teilweise auch nehmen müssen, sonst würde das Werk, trotz Überlänge und einem zweiten, vermutlich nicht viel kürzeren Teil, völlig ausufern. Man darf wohl auf die Serie in zehn, fünfzehn Jahren gespannt sein. Ein Aspekt, der zur Sprache kommt, aber eher am Rande behandelt wird, betrifft die sprechenden Tiere, die nach und nach verschwinden. Zusammen mit Elphabas Ausgrenzung aufgrund ihrer Hautfarbe ist es leicht, dies als Blaupause für jede Art von Diskriminierung zu sehen. Man könnte Wicked sogar als Allegorie auf den Trump-Populismus verstehen, in dem auch ein falscher Zauberer seine Anhänger glauben machen will, dass gut eigentlich böse ist und umgekehrt.
Erwähnt werden sollte vielleicht auch noch die sich langsam abzeichnende Rivalität der beiden Protagonistinnen um den hübschen Prinzen Fiyero, der von Jonathan Bailey auf beeindruckend elegante und stimmkräftige Art gespielt wird. Der eitle, oberflächlich erscheinende Beau entpuppt sich mit der Zeit als erstaunlich tiefsinnig und hilfsbereit, eine Entwicklung, die vielleicht ein wenig zu schnell vonstattengeht. Dazu kann man nur sagen: Hätten sie mal etwas weniger gesungen, wäre mehr Zeit für charakterliche Entwicklungen und ernste Themen wie ethnische Säuberungen und politische Manipulationen gewesen.
Aber im Ernst, Wicked besticht durch seine zauberhaften Figuren, seine opulente, farbenprächtige Ausstattung und seine überbordende Inszenierung von Regisseur Jon M. Chu. Die erste Hälfte besitzt zwar ein paar Längen, die Musik ist Geschmackssache und manche Einfälle sind vielleicht übertrieben albern, aber all die Schwächen werden im zweiten Teil mehr als wettgemacht, wenn Elphalba in einem furiosen Finale zur gefürchteten Hexe des Westens wird und man es nicht erwarten kann, zu sehen, wie ihre Geschichte weitergeht.
Note: 3+