Seit Jahren hat es Tradition, dass es zu Neujahr ein neues Box Office Jahr gibt – am 1. Januar 2025 wäre eigentlich 1955 dran gewesen – das hätte auch wunderbar gepasst, schließlich würden die „All-Time-Charts“ dann genau 70 Jahre umfassen. Warum es sich dieses Mal verzögert und wie die Jahres-Charts entstehen, will ich in diesem Beitrag erklären – wer sich für das Prozedere nicht interessiert, kann also diesen Beitrag skippen…
Offizielle Kino-Charts gibt es erst seit Sommer 1987, die monatlichen FFA Top 100 seit Sommer 1980 (wobei die Zahlen erst ab 1984 alle Kinos abdeckten) und Besucher-Charts (zunächst von etwa 200, später dann von etwa 600 Kinos in Deutschland) seit Frühling 1977, die in der Branchenfachzeitschrift Filmecho (der korrekte Name ist eigentlich Film-Echo/Filmwoche vereinigt mit Filmblätter) veröffentlicht wurden.
Davor gibt es so gut wie keine Transparenz. Natürlich gab es in den Fachzeitschriften von Zeit zu Zeit Erfolgsmeldungen, aber es gab keine Top Ten des Jahres, geschweige denn eine Top Fifty oder Top 100. Aber das Filmecho hatte etwas Ähnliches, nämlich das Echo der Filme. Das ganze Jahr über schickten Kinos Erfolgsbewertungen an die Redaktion – insgesamt gab es sieben Notenstufen von „sehr schlecht“ bis „ausgezeichnet“. Zum Jahreswechsel gab es dann eine Übersicht von allen Filmen mit mindestens zehn (für deutschsprachige Filme) bzw. zwanzig Bewertungen (für ausländische Filme) und deren Durchschnittsbenotungen.
Diese Auswertung bildete bislang die Basis für die Jahres-Charts bei InsideKino. Da ich im Laufe der Jahre bei meinen Recherchen viele echte Besucherzahlen oder Verleiheinnahmen der 50er, 60er und 70er Jahre sammeln konnte (darunter Hunderte Filme von Fox, Universal, Paramount, United Artists, Disney, MGM und Republic), war es mir möglich, diese tatsächlichen Zahlen mit den Echo der Filme-Benotungen abzugleichen. Und auf Basis dieses Abgleichs habe ich dann Besucherzahlenschätzungen der anderen Filme ermittelt. Dies ist natürlich nicht perfekt, aber ich habe bei meinen Erläuterungen stets betont, dass es sich bei diesen Filmen um ‚gröbere Schätzungen handelt, die eher als Richtwert dienen‘.
Und dennoch wunderte ich mich immer wieder, dass Filme, von denen ich vermutete, dass sie große Blockbuster waren, in den Jahres-Charts relativ weit unten rangierten. Also bin ich dieses Jahr einen Schritt weiter gegangen. Statt die Jahres-Abrechnung als Grundlage zu nehmen, habe ich jede einzelne Benotung der Kinobesitzer in eine Excel-Datei eingespeist. Diese Benotung enthielt nämlich neben der Bewertung des Geschäfts auch die Sitzplatzanzahl des Kinos und die Anzahl der Tage im Einsatz.
Und siehe da, schon verschoben sich die Koordinaten bei manchen Filmen sehr deutlich. Denn eine Bewertung des Kinobesitzers für einen eingesetzten Film, der in seinem Kino sechs Monate lief, ist in der Jahres-Übersicht genauso viel wert, wie ein Film, der nur sechs Tage im Einsatz war. Das Gleiche gilt natürlich für ein Kino mit 1.800 Sitzplätzen vs. einem Kino mit 180.
Da insbesondere die amerikanischen Filmverleiher auf lange Laufzeiten setzten, profitieren hauptsächlich US-Filme von dieser Neugewichtung. Im Jahr 1956 werden zum Beispiel die beiden James Dean-Filme und Otto Premingers Carmen Jones, aber auch großes Kino mit den Superstars Hollywoods beim fälligen Update deutlich besser abschneiden.
Diese Neugewichtung allein wäre also schon ein Quantensprung in der Widerspiegelung der tatsächlichen Erfolgsgeschichten eines Jahres. Aber es gibt trotzdem noch ein Manko: Die Kinobesitzer haben nicht jeden Film bewertet. Gerade für B- und C-Filme wurden nur wenige oder sogar überhaupt keine Bewertungen eingereicht. Nur ein Beispiel: Der Republic-Film Zorros Schatten – El Latigo (Start am 27. Mai 1955) mit insgesamt 964.978 Besuchern hatte 1955-56 keine einzige Bewertung!
Ein weiteres Manko: Wiederaufführungen wurden kaum gemeldet. Vor Video und vor einer TV-Ausstrahlung waren viele Filme immer wieder im Einsatz und so konnten aus normalen Blockbustern immer wieder All-Time Blockbuster wie Vom Winde verweht oder 12 Uhr Mittags werden. Zudem gab es gerade in den 50er Jahren viele Wiederaufführungen von Filmen, die entweder von den Nazis oder später von den Alliierten verboten waren.
Aber auch diese beiden Mankos können ausgeglichen werden. Denn die anderen Fachzeitschriften beobachteten ebenfalls den Markt. So deckte Die Filmwoche (mehr oder weniger) das Gesamtprogramm von sechs (später sogar sechzehn) und Der neue Film von achtzehn Großstädten ab, während Die Filmblätter die Einsatztage in acht Städten zählte. Und dann gab es noch den Film-Sonderdienst, dem ‚vertraulichen Erfahrungsaustausch der Filmtheater‘ in dem ebenfalls die Filme von den Kinobesitzern nach Erfolg bewertet wurden.
Mit diesen weiteren Quellen können also auch die Erfolge von B- und C-Filmen und Wiederaufführungen eingearbeitet werden. Da die Filme meist zwei Jahre im Einsatz waren (exklusive Wiederaufführungen) muss ich Zehntausende Einzelbewertungen einspeisen und das dauert und ist nicht mehr bis zum 1. Januar zu schaffen.
Aber wenn erst einmal alle Daten eingespeist sind und in Relation zu den mir bekannten echten Zahlen gebracht wurden, dann glaube ich, dass das Jahr 1955 die ultimativen historischen Charts darstellen wird. Natürlich können neue Recherche-Funde (die aber sehr unwahrscheinlich sind) die Charts noch verändern. Zudem werde ich alle bisherigen Charts der 50er und 60er Jahre nach dem neuen System aktualisieren müssen, was wiederum bedeutet, dass Wiederaufführungen manche 1955er Filme noch nach oben pushen könnte.
Ich bin zuversichtlich, dass der Osterhase die Jahres-Charts 1955 liefern wird und dass das Jahr 1954 dann wieder pünktlich am 1. Januar 2026 online gehen kann. Und zum Trost gibt es am 1. Januar 2025 ein großes Update des Jahres 1975 mit 133 zusätzlichen Filmen – und das passt dann auch gut zum 50. Geburtstag der 1975er Filme…
PS: Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich wieder bei allen bedanken, die mich im Laufe der Jahrzehnte bei meinen Recherchen unterstützt haben – und da es diesmal gut passt – auch bei Detlef Schaller, dem ehemaligen Herausgeber von Filmecho/Filmwoche, der immer für mehr Box Office Transparenz in der deutschen Kinobranche gekämpft hat…