Anora

Es hat eine Weile gedauert, den Weg ins Kino zu finden (okay, nicht unbedingt den Weg, vielmehr die Zeit), aber nach den guten Kritiken und dem recht ansehnlichen Erfolg wollte ich den Film unbedingt auf der großen Leinwand sehen. Bislang konnte ich mit dem Regisseur Sean Baker absolut nichts anfangen. Seine beiden letzten Filme, Florida Project und Red Rocket habe ich – ebenfalls aufgrund guter Kritiken – angefangen, aber dann nach jeweils dreißig oder vierzig Minuten abgebrochen, weil sie so langweilig und substanzlos waren. Habe ich diesmal mehr Glück?

Anora

Die Stripperin Ani (Mickey Madison), die eigentlich Anora heißt und ein wenig Russisch spricht, wird eines Tages zu einem reichen, jungen Russen geschickt, um für ihn zu tanzen. Ivan (Mark Eydelshteyn), den alle nur Wanja nennen, ist der verwöhnte Sohn eines schwerreichen Oligarchen, der in den USA studiert, seine Zeit aber vor allem mit Videospielen und Drogen verschwendet. Weil Wanja Ani attraktiv findet, bucht er sie für eine Nacht, um Sex mit ihr zu haben. Als er sie anschließend für eine volle Woche buchen will, glaubt sie, den Jackpot gewonnen zu haben. Die beiden verstehen sich gut, kommen sich immer näher, und dann macht Wanja, der gerne eine Green Card hätte, um dauerhaft in den USA bleiben und seinen dominanten Eltern entkommen zu können, der überraschten Ani einen Heiratsantrag.

Als seinerzeit Pretty Woman in die Kinos kam und sich alle die Augen rieben, welches Thema da ausgerechnet beim erzkonservativen Disneystudio verhandelt wurde, sagten viele Menschen hinterher spöttisch, dass kleine Mädchen nun nicht mehr davon träumten, Prinzessin zu sein, sondern Prostituierte. Die knallharte Realität wurde in dieser zuckersüßen Komödie natürlich dezent ausgeblendet, anders als es Sean Baker in dieser, wie er es nennt, romantischen Dramedy versucht.

Der Look orientiert sich, wie schon bei seinen früheren Filmen, an der Ästhetik der Siebziger und wirkt so dokumentarisch, dass keiner auf die Idee kommen kann, dass es sich hier um eine weichgespülte Romanze handelt. Ani agiert von Anfang an professionell und geschäftstüchtig, sie weiß, auf welcher Seite ihr Brot gebuttert ist und wie sie möglichst viel Profit aus ihren Kunden herausschlagen kann. Das ist auch durchaus in Ordnung, ist sie eine schwer arbeitende junge Frau, die ihren Körper kapitalisiert. Für keine Sekunde glaubt man aber, dass sie sich tatsächlich in Wanja verliebt.

Der junge Russe ist ein verwöhntes Kind, das über die Stränge schlägt, nie Verantwortung tragen musste und nicht erwachsen werden will. Er ist albern, ständig high und ein großzügiger Gastgeber, der mit seinen Freunden gerne Party macht. Richtige Freunde scheint er nicht zu besitzen, aber er hängt gerne mit einigen Russen ab, die er in New York und Umgebung kennengelernt hat, die aber nicht wie er zu seiner Klasse gehören. Er wirkt dadurch ein wenig verloren, und man versteht, dass er sich von seinen Eltern abnabeln will, auch dass er spontan Ani einen Antrag macht. Es ist eine Verrücktheit, aber auch hier weiß man, dass es keine Liebe ist.

Die Probleme für das Paar fangen an, als Wanjas Eltern ihren Mittelsmann Toros (Karen Karaguljan) von der Taufe seines Patenkinds wegholen, damit er die Ehe annulliert. Zusammen mit seinem Bruder und dem Mann fürs Grobe, Igor (Juri Borissow) überfällt er Ani und Wanja, um sie zu zwingen, den Wünschen seiner Eltern zu genügen. An dieser Stelle fängt der Film erst richtig an, ist dabei aber schon fast zur Hälfte vorbei. Baker braucht leider unendlich lange, um Ani und ihre Welt zu etablieren und sich dann ausführlich ihrer „Liebesbeziehung“ zu widmen, die nahezu ausschließlich daraus besteht, die beiden beim Videospielen, Feiern oder Sex zu beobachten. Ein geschickterer und effizienterer Filmemacher hätte dafür nur wenige Minuten gebraucht – oder den Figuren wenigstens etwas mehr Tiefe und Emotionen verliehen.

Immerhin bekommt die ziemlich langweilige Story mit dem Auftauchen von Toros eine scharfe komödiantische Note, die ihr mehr als nur guttut. Wie Ani sich gegen die „bösen Russen“ zur Wehr setzen muss, gegen Tradition, Patriarchat und russische Dominanz kämpft, ist stellenweise köstlich inszeniert, aber leider nicht ohne Schwächen. Die Szenen sind oft zu lang, Baker hat kein Gespür für das richtige Timing, vieles wirkt improvisiert oder schlecht einstudiert.

Ab diesem Punkt weiß man tatsächlich nicht, wohin die Reise führen wird. Eine Weile mäandert der Film wie eine groteske Slacker-Komödie durch das winterliche Brighton Beach, und mit dem stoischen Igor, der sich zunehmend in Ani verliebt, bekommt die Geschichte endlich eine sympathische Figur. Für Ani ist es jedoch zu spät, man hofft zwar noch, dass ihre kämpferische Leidenschaft irgendwann Früchte trägt, dass sie, als die Heldin, die man sich gerne wünschen würde, am Ende cleverer als ihre Gegner wäre, und einmal sieht es sogar so aus, aus würde sie die Oligarchen austricksen können, aber dann knickt sie wieder ein und lässt den Zuschauer enttäuscht zurück.

Pretty Woman ist ein Märchen, Anora hingegen erzählt eine ähnliche Geschichte, aber so, als würde sie sich in unserer realen Welt ereignen, was den Film zwar authentisch macht, aber leider auch ziemlich freudlos. Zusammen mit den inszenatorischen Schwächen und den vielen Längen bleiben nur ein paar köstliche Momente sowie die tolle schauspielerischen Leistung von Madison und Burissow, aber viel mehr leider nicht.

Note: 3-

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.