Come on, Come on

Dieser Film stand lange auf meiner Watchlist. Der Trailer sah zwar nicht uninteressant aus, hatte einen melancholischen Schwarz-Weiß-Look, für den man freilich in der richtigen Stimmung sein muss, vermittelte aber nicht unbedingt den Eindruck, eine flotte oder spannende Geschichte zu erzählen. Alles wirkte recht behäbig, tempoarm und etwas angestrengt. Kein Film, den man unbedingt und möglichst schnell sehen möchte. Oder wenn man wenig geschlafen hat.

Als er dann aber bei Prime Video zu verschwinden drohte, hatte ich das Gefühl, ihn doch noch sehen zu müssen. Man könnte ja vielleicht etwas verpassen.

Come on, Come on

Johnny (River Phoenix) interviewt für eine Dokumentation im Radio Kinder überall in den USA und befragt sie über ihre Gedanken und Gefühle, ihre Ängste und Vorstellungen von der Zukunft. Zu seiner Schwester Viv (Gaby Hoffmann) hat er seit dem Tod ihrer Mutter kein enges Verhältnis mehr, aber als sie eines Tages zu ihrem Ex-Mann (Scoot McNairy) reisen muss, der aufgrund seiner bipolen Störung Hilfe braucht, bietet Johnny an, sich während ihrer Abwesenheit um seinen Neffen Jesse (Woody Norman) zu kümmern.

Regisseur und Drehbuchautor Mike Mills wurde zu dem Film durch ein längeres Gespräch mit seinem kleinen Sohn inspiriert, und sollte man die Geschichte mit einem Wort beschreiben, wäre kontemplativ wohl ziemlich treffend. Mills erzählt sehr unaufgeregt und in einem gleichbleibenden Tempo von Johnny, der gerade eine längere Beziehung hinter sich hat, deren Ende ihn immer noch mitnimmt, und der sich nun in seine Arbeit stürzt. Weil er ohnehin gerade viel mit Kindern zusammen ist und sie befragt, ist der Gedanke, sich um seinen Neffen zu kümmern, naheliegend, und er freut sich sogar darauf, mehr Zeit mit Jesse zu verbringen und ihn besser kennenzulernen.

Das Verhältnis zwischen Johnny und Viv spielt ebenso eine große Rolle in der Geschichte. Die Geschwister haben sich über die Pflege der demenzkranken Mutter und Vivs Ehe mit dem psychisch labilen Paul zerstritten und versuchen nun, wieder zueinanderfinden, was nicht leicht ist, weil die Verletzungen der Vergangenheit zwischen ihnen stehen. Auch die beiden begeben sich auf eine Reise, die aber mehr am Telefon stattfindet.

Im Zentrum steht aber Jesse, der ein ungewöhnlicher Junge ist, klug, einfühlsam, sehr reif für sein Alter, beinahe altklug, und auch etwas anstrengend. Viv hat ihn in absoluter Offenheit erzogen, ihn ermutigt, über seine Gefühle zu sprechen, und ihn auch schwierigen Themen wie etwa der psychischen Erkrankung seines Vaters ausgesetzt. Jesse ist ein bisschen wie ein Erwachsener im Miniaturformat, der zu viel nachdenkt, dann aber wieder mit kindlicher Albernheit überrascht. Und er spielt gerne ein etwas makabres Spiel, in dem er sich als Waisenkind ausgibt, das die Rolle der verstorbenen Kinder von Viv oder Johnny ausfüllen möchte.

Come on, Come on erzählt keine klassische Geschichte, sondern besteht aus verschiedenen Episoden, gegliedert nach den Schauplätzen Los Angeles, New York und New Orleans, die Johnny und Jesse besuchen, und vielen, vielen Gesprächen. Viele davon wirken authentisch, beinahe dokumentarisch, als hätte Mills seine beiden Schauspieler improvisieren lassen, andere sind sorgsam geschrieben und inszeniert, wirken dabei aber nie künstlich. Inwieweit Woody Norman tatsächlich in die Rolle des Jesse geschlüpft ist, kann man schwer festmachen, der Junge wirkt ungeheuer echt und überzeugend, so als wäre er tatsächlich Jesse. Auch sein Zusammenspiel mit River Phoenix ist beeindruckend.

Der Film besitzt, wie gesagt, eher einen dokumentarischen Charakter und verzichtet weitgehend auf eine dramatische Entwicklung. Es geht vor allem um die Beziehungen zwischen den Figuren, um Onkel und Neffe, die sich besser kennenlernen, um Johnny und Viv, die sich wieder annähern, und am Rande auch um Pauls Erkrankung. Ansonsten dreht sich alles um die teils banalen, teils philosophischen Gespräche zwischen Johnny und Jesse, die sehr gut zu den Interviews passen, die er nebenbei führt. Zusammen mit der ruhigen, häufig klassischen Musik und den melancholischen Schwarz-Weiß-Bildern entsteht ein unaufgeregtes Drama, das zum Teil auch als Sittenbild unserer Zeit dient. Der Klimawandel, das aufgeheizte gesellschaftliche Klima der USA und psychische Probleme stehen dabei im Mittelpunkt. Die Welt aus Kindersicht.

Insgesamt ist der Film rund zwanzig Minuten zu lang, nicht alle Szenen sind gelungen, obwohl es einige gibt, die durchaus beeindrucken, man vermisst zwar einen dramatischen Höhepunkt, eindringliche Momente, die lange im Gedächtnis bleiben, dennoch hinterlässt der Film ein gutes Gefühl. Am stärksten beeindruckt jedoch dieser kleine Schauspieler, der ganz alleine diese Geschichte trägt.

Note: 3+

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.