Als der Film in unsere Arthäuser kam, war ich ein junger, naiver Filmstudent, der leicht zu begeistern war. Insbesondere von den kleinen, manchmal obskuren, manchmal sehr künstlerischen Independentfilmen von Regisseuren wie Hal Hartley oder Wong Kar-Wai. Während Ersterer nie aus dem Nischendasein herauskam und seit einigen Folgen der sehenswerten und lustigen Serie Red Oakes nichts mehr inszeniert hat, hat Wong Kar-Wai nach seinen Anfängen in den Neunzigerjahren noch einige internationale Erfolge verbuchen können. Etwa In the Mood for Love (der bei uns peinlicherweise Der Klang der Liebe heißt) oder 2046. Seit dem doch sehr konventionellen The Grandmaster ist es jedoch ruhiger um ihn geworden, und auch er hat zuletzt fürs Fernsehen gearbeitet.
Auf Cabel Eins Classics laufen immer wieder zwei seiner Frühwerke, die ich damals im Kino gesehen habe, und irgendwie war ich neugierig, wie sie heute auf mich wirken würden. Tatsächlich sollten beide Filme ursprünglich Teil des Episodenfilms Chungking Express sein, doch dann hat der Regisseur während der Dreharbeiten beschlossen, Fallen Angels zu einem eigenständigen Werk zu machen.
Chungking Express
Der Hongkonger Polizist 223 (Takeshi Kaneshiro) wurde am 1. April von seiner langjährigen Freundin verlassen und gibt sich einen Monat Zeit, sie entweder zurückzugewinnen oder zu vergessen. Am 1. Mai wird er 25, und bis dahin kauft er jeden Tag eine Dose Ananas mit diesem Verfallsdatum. Während er seiner Liebe nachtrauert und sich zögernd nach einer neuen umschaut, versucht eine Frau mit blonder Perücke (Brigitte Lin) sich als Drogenschmugglerin. Doch die Männer, die sie rekrutiert, betrügen sie, und ihre Lieferanten wollen sie töten. Erschöpft und am Ende lernt sie schließlich 223 in einer Bar kennen, der sich in sie verlieben will.
Auch die zweite Story handelt von einem Polizisten. Nummer 663 (Tony Leung Chiu-wai) wurde ebenfalls gerade von seiner Freundin verlassen und lernt in einem Schnellimbiss die junge Faye (Faye Wong) kennen, die sich in ihn verliebt. Als seine Ex-Freundin in dem Stammlokal einen Brief mit dem Wohnungsschlüssel für ihn abgibt, benutzt Faye ihn, um heimlich in sein Appartement einzudringen, es zu putzen und umzudekorieren.
Wong Kar-Wai erzählt gerne von verlorenen Seelen, und er hat ein untrügliches Gespür für Stimmungen. Man muss seine Filme auf der großen Leinwand sehen, damit sie ihren Sog richtig entfalten können, denn auf dem Fernsehschirm ist er bestenfalls zu erahnen. Chungking-Express ist ein visueller Fiebertraum, eine Reise durch die engen Gassen von Hongkong, in denen sich die Menschen drängen und das Leben pulsiert. Die Kamera ist ständig in Bewegung, die Farben sind grell und fließen ineinander, so dass man sich in einem Traum vermutet, die Zeit läuft manchmal unendlich langsam ab, dann im Zeitraffer, und gelegentlich setzt er sogar beide Effekte gleichzeitig ein.
Mit seiner ungewöhnlichen, hypnotischen Bildsprache versucht der Regisseur, die Gefühle seiner Figuren darzustellen, insbesondere ihre Verlorenheit, Traurigkeit und Enttäuschung. Sie alle sind in einem Strudel gefangen, werden umhergeschleudert, auf den Kopf gestellt und versuchen, nicht unterzugehen. Obwohl sie in einer der am dichtesten bevölkerten Städte der Welt leben, umgibt sie eine melancholische Einsamkeit, die Wong Kar-Wai in Poesie übersetzt.
Wie in Arthur Schnitzlers Der Reigen gibt es einen Übergang zwischen den beiden Geschichten, in dem eine Figur aus der ersten eine aus der zweiten trifft. Tatsächlich hatte ich völlig vergessen, dass der Film aus zwei Episoden besteht, und konnte mich nur an die erste erinnern. Die Story der Drogenschmugglerin, die stets in Regenmantel, Sonnenbrille und Perücke zu sehen ist, und des romantischen Polizisten ist die spannendere, weil sie Anleihen beim Gangsterfilm nimmt und mit einem Schusswechsel auf offener Straße sogar eine Spannungsszene besitzt. Leider erfährt man nicht sehr viel über die kriminelle Frau, ihre Gegenspieler und was passiert, nachdem sie sich gewaltsam gerächt hat. Auch ihre Verbindung zum melancholischen Polizisten 223 ist eher oberflächlicher Natur, lernen sie sich doch erst gegen Ende kennen und wechseln kaum ein paar Worte.
Auch die zweite Episode entzieht sich den Regeln einer konventionellen Liebesgeschichte. Überhaupt handelt der Film eher davon, wie Menschen mit dem Scheitern einer Beziehung umgehen, wie sie trauern, verzweifeln, akzeptieren und am Ende weitermachen. Wong Kar-Wai ist mehr am Schmerz interessiert als am Zauber der Liebe, mehr am Unglück als am Glück. Die Liebesgeschichte zwischen 663 und Faye findet daher eher im Kopf der jungen Frau statt, die gleichzeitig auf der Suche nach sich selbst ist. Faye hört mit Besessenheit immer wieder California Dreamin‘ von The Mamas and the Pappas und träumt dabei, aus der Enge ihres Lebens auszubrechen. Auch diese ständige Wiederholung eines einzelnen Songs (in diesem Fall sind es mehrere) ist übrigens ein Markenzeichen des Regisseurs. Und am Ende muss Faye sich zwischen ihren beiden Zielen entscheiden.
Beide Episoden sind keine spannenden oder aufregenden Geschichten, sie leben vor allem von ihren sorgfältig gezeichneten Figuren, deren Gefühlswelt Wong Kar-Wai auf eine ungemein beeindruckende visuelle Weise bebildert, deren hypnotischer Sog die große Leinwand erfordert. Auf dem Fernsehschirm kann man sie bestenfalls erahnen.
Note: 3