Die Neunzigerjahre waren eine gute Zeit für das Arthauskino mit vielen spannenden Geschichten und großartigen neuen Talenten, die es zu entdecken gab. Auf Ang Lee bin ich entweder durch Das Hochzeitsbankett aufmerksam geworden, den ich nur so lala fand, oder durch Eat Drink Man Woman, der vermutlich immer noch zu meinen zehn liebsten Filmen aller Zeiten zählt. Vielleicht auch nur deshalb, weil ich ihn seit mindestens zehn oder fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen habe.
Als kürzlich bei Cabel Eins Classics Der Eissturm gezeigt wurde, dachte ich, es wäre ganz nett, diesen Film, den ich damals sehr mochte, ein weiteres Mal anzuschauen. Immerhin ist die Cast so beeindruckend wie bei kaum einem zweiten Film.
Der Eissturm
In einer kleineren Stadt im nördlichen Teil New Yorks bereiten sich im Herbst 1973 die Familien auf Thanksgiving vor. Paul (Tobey Maguire) fährt vom Internat nach Hause, plant aber, seine heimliche Liebe Libbets (Katie Holmes) in ein paar Tage in Manhattan zu besuchen, fürchtet jedoch, dass sein Zimmergenosse Francis (David Krumholtz) sie ihm vorher ausspannen könnte. Pauls 14jährige Schwester Wendy (Christina Ricci) steckt ebenfalls in einer Art Dreiecksbeziehung mit ihrem Jugendfreund Mikey (Elijah Wood) und seinem jüngeren Bruder Sandy (Adam Hann-Byrd). Auch die Eltern haben mit amourösen und ehelichen Problemen zu kämpfen: Pauls und Wendys Vater (Kevin Kline) betrügt seine Frau (Joan Allen) mit der selbstbewussten Nachbarin Janey (Sigourney Weaver).
In den frühen Siebzigern erreicht die Sexuellen Revolution endgültig die biederen Vororte und Kleinstädte der USA. Auf einer Dinnerparty diskutiert man über den revolutionären Porno Deep Throat, und der Höhepunkt der Frivolität ist im späteren Verlauf des Films eine Schlüsselparty bei einer Freundin (Allison Jenney), auf der die Frauen aus einer Schüssel mit Autoschlüsseln willkürlich ein Exemplar auswählen und mit dem Besitzer dann Sex haben. Eine Veranstaltung, die aufregend klingt, aber bei vielen Beteiligten nur Unbehagen und Traurigkeit hervorruft.
Die Geschichte basiert auf dem autobiografisch geprägten Roman von Rick Moody, der von James Schamus, der häufig mit Ang Lee zusammengearbeitet hat, adaptiert wurde, und erzählt von den Problemen und Nöten der amerikanischen Mittelschicht. Stellenweise erinnert die Story an American Beauty, Little Children oder Zeiten des Aufruhrs. Gemeinsam mit diesen Filmen hat Der Eissturm ein sehr gemächliches Tempo und einen scharfen, genauen Blick auf seine dargestellten Figuren.
Alle Figuren kämpfen mit ihrer Einsamkeit, sie suchen nach menschlicher Nähe und Trost, wollen der Langeweile ihres Lebens entfliehen, betäuben sich mit Drogen, Sex oder Ladendiebstahl, um überhaupt etwas zu fühlen, und sind mehr oder weniger beschädigt. Während die Erwachsenen sich mit den Zumutungen des Lebens weitgehend abgefunden haben, mehr nebeneinander als miteinander leben und vor allem um sich selbst kreisen, sind ihre Kinder noch dabei, die Welt zu entdecken. Wendy interessiert sich für Politik, hasst Richard Nixon und nennt ihren Vater einen Faschisten, weil er nicht gegen den Krieg in Vietnam ist, dessen Grauen Tag für Tag zum Abendbrot über den Bildschirm flimmert. Ein Leben wie erstarrt in seiner Gefühllosigkeit und Lethargie.
Wie gesagt, das Tempo ist gemächlich, es gibt kaum interessante Konflikte, aber dafür eine beeindruckende Besetzung, die all diese Mängel halbwegs wettmachen kann. Dennoch ist der Film für heutige Zuschauer eine Geduldsprobe, denn erst im letzten Drittel steuert alles auf die titelgebende Naturkatastrophe zu, die ein Todesopfer fordert. Und wie Virginia Wolfe einst sagte, es ist dieser Tod eines Unschuldigen, der die anderen wieder an den Wert des Lebens erinnert.
Alles in allem ist Der Eissturm nicht Ang Lees bester Film, aber mit Sicherheit auch nicht sein schlechtester. Wer tolles Schauspielkino mag und Dramen aus der amerikanischen Mittelschicht, sollte ihn nicht verpassen.
Note: 3