Vertigo – Aus dem Reich der Toten

Höhenangst war in unserem Urlaub durchaus das eine oder andere Mal ein Thema, und deshalb passt dieser Beitrag ganz gut in diese Woche. Morgen geht es dann sogar um eine Weltreise.

In meiner lange zurückliegenden Jugend wurden in schöner Regelmäßigkeit alte Hitchcock-Filme im Fernsehen gezeigt. Irgendwann habe ich auch Vertigo gesehen, konnte mich aber nur vage an die Geschichte erinnern und hatte ihn eher als langweilig in Erinnerung. Es wurde also Zeit für eine erneute Sichtung, und da der Film gerade bei Prime Video herumgeistert, habe ich Nägel mit Köpfen gemacht.

2012 wurde der Film von der britischen Filmzeitschrift „Sight & Sound“ in einer Kritikerumfrage als bester Film aller Zeiten gekürt, womit er seinerzeit, wenn ich mich recht erinnere, Citizen Kane von seinem Thron gestoßen hat. Das weckt natürlich hohe Erwartungen.

Vertigo – Aus dem Reich der Toten

Bei der Verfolgung eines Verbrechers über den Dächern von San Francisco stürzt Detective John „Scottie“ Ferguson (James Stewart) ab und baumelt über einem tiefen Abgrund. Als ein Polizist versucht, ihn zu retten, stürzt dieser in die Tiefe. Dieses Trauma führt bei Scottie zu einer ausgeprägten Höhenangst. Infolgedessen quittiert er seinen Dienst, und nicht einmal Midge (Barbara Bel Geddes), mit der ihn eine lange Freundschaft verbindet, kann ihn von seinen hartnäckigen Schuldgefühlen befreien.

Eines Tage bittet ihn ein alter Collegefreund um Hilfe: Gavin (Tom Helmore) engagiert Scottie, um seine Frau Madeleine (Kim Novak), die aus einer reichen Reederfamilie stammt, zu observieren. Madeleine ist seit einiger Zeit besessen von ihrer Urgroßmutter Carlotta Valdes, der Mätresse eines Tycoons des 19. Jahrhunderts, die sich mit nur 26 Jahren das Leben genommen hat. Gavin sorgt sich, dass Madeleine, die nun ebenfalls in diesem Alter ist, ähnliche Gedanken haben könnte. Tatsächlich stürzt sie sich wenig später in die Bucht von San Francisco. Scottie rettet sie – und die beiden verlieben sich ineinander.

Die Autoren der Romanvorlage sind die französischen Krimiautoren Pierre Boileau und Thomas Narcejac. Etliche ihrer psychologischen Triller wurden verfilmt, darunter Die Teuflischen, der einige Jahre vor Vertigo entstand. Für die Adaption wurden allerdings einige Änderungen vorgenommen. Neben der Verlagerung der Schauplätze an die amerikanische Westküste, ist die wichtigste Änderung wohl, dass die Auflösung bereits am Ende des zweiten Akts verraten wird und einen packenden Plot-Twist bildet.

Eine wichtige Rolle in der Geschichte spielt die Psychologie der Figuren. Scotties Höhenangst nimmt eine zentrale Rolle ein, und schon zu Beginn wird etabliert, dass er diese nur durch ein weiteres Trauma überwinden könne. Dass dieses mit einer tragischen Liebesgeschichte kombiniert wird, ist ein überaus geschickter Schachzug. Auch weitere psychische Erkrankungen wie Depressionen und Psychosen spielen eine Rolle.

Alles in allem muss man jedoch festhalten, dass die Story ziemlicher Quark ist. Selbst wenn man Gavins Idee, dass Madeleine vom Geist ihrer Urgroßmutter besessen ist, abmildert und psychologisch fundierter mit einer fixen Idee erklärt, ist vieles einfach nicht stimmig. Die „Besessenheit“, im übertragenen Sinn, von der Geschichte ihrer Urgroßmutter würde nur Sinn ergeben, wenn es Parallelen zu ihrem Leben geben würde, davon kann aber keine Rede sein. Insofern funktioniert das alles nur auf der Behauptungsebene.

Immerhin kann man nachvollziehen, dass Scottie sich zu der bildschönen Frau hingezogen fühlt, und – wenn man selbst mal einen laienpsychologischen Ansatz verfolgen darf – allgemein ein Faible für fragile bzw. psychisch angeknackste Frauen zu haben scheint. Die patente, selbstbewusste und überaus lebhafte Midge, die gar nicht mal so heimlich in ihn verliebt ist, lässt ihn jedenfalls kalt.

Die Geschichte handelt also von zwei Menschen, die beide psychisch labil oder angeschlagen sind und sich ineinander verlieben. Da kann ja nichts schiefgehen, nicht wahr? Doch Hitchcock wäre nicht der Master of Suspense, wenn sich daraus kein Kriminalfall entwickeln würde. Über den überraschenden Plot-Twist gegen Ende sei hier nichts verraten, falls jemand den Film noch nicht kennen sollte. Er ist noch das Beste an einer ansonsten tempoarmen und wenig spannenden Geschichte mit einem absolut furchtbaren und geradezu platten Ende. Was hat sich Hitchcock nur dabei gedacht?

Aus heutiger Sicht ist wieder einmal Hitchcocks furchtbares Frauenbild ungemein störend. Kim Novak agiert als Spielball zweier dominanter Männer, die sie beide zur Frau ihrer Träume umwandeln – allerdings zu völlig gegensätzlichen Zwecken. Dieses erotische und gleichzeitig gefährliche Spiel wird allerdings nicht auf Augenhöhe gespielt. Novaks Figur hat den mächtigen und für sie daher reizvollen Männern nichts entgegenzusetzen, wird von ihnen nicht um ihrer selbst willen begehrt, sondern ist lediglich eine Projektionsfläche ihrer (Alp-)Träume. Und damit letzten Endes ein willenloses Wesen, das, wie in Hitchcock-Filmen häufig, sehr viel erleiden muss. Gegen Ende sagt sie sogar resigniert selbst, dass ihr alles egal sei und die Männer mit ihr machen könnten, was sie wollen.

Thematisch passt dazu auch Carlottes Geschichte aus dem 19. Jahrhundert, die ebenfalls von Ausbeutung und Verrat, von Demütigung und Zerstörung handelt. Vertigo ist ein Film über die Vernichtung weiblicher Identität und Autonomie, und der Zuschauer schlägt sich gegen Ende auf die Seite der Frau und damit des Opfers. Dass Hitchcock dies so inszeniert hat, ist bemerkenswert, denn sein Frauenbild gilt gemeinhin als problematisch. Für ihn geht es vor allem um die Abgründe erotischer Besessenheit inklusive nekrophiler Motive – aber aus einem rein männlichen Blickwinkel. Die Frau ist hier nur ein Objekt, gleichzeitig aber, trotz aller Schuldhaftigkeit, auch ein bemitleidenswertes Opfer. Natürlich darf dabei der Star James Stewart nicht beschädigt werden, und so fällt das Resultat etwas flach aus. Wirklich mutig wäre es gewesen, mit dem Plot-Twist auch einen Perspektivwechsel vorzunehmen und alles aus weiblicher Sicht zu erzählen.

Warum gilt der Film dennoch als Meisterwerk? Berühmt geworden ist vor allem die nach ihm benannte Vertigo-Fahrt, bei dem die Kamera auf ein Objekt zufährt, während gleichzeitig rückwärts gezoomt wird. Aber auch andere Einfälle, etwa die kreisende Fahrt um das sich küssende Paar vor wechselnden Hintergründen, oder die ausgeklügelte Farbdramaturgie sowie die grafischen Szenen, die Scotties Träume bebildern, sind bemerkenswert. Vertigo ist vermutlich der erste Film, der Computergrafiken einsetzte und war damit seiner Zeit weit voraus.

Alles in allem ist der Film keiner meiner liebsten Hitchcock-Filme, aber ein Klassiker, den man unbedingt gesehen haben sollte. Einmal, würde ich nun sagen, reicht aber.

Note: 3

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.