Der regelmäßige Leser dieser Seiten weiß, dass wir im September häufig in die USA gereist sind, um dort zu wandern. Nicht so in diesem Jahr. Aber wandern waren wir dennoch, nur in heimischen Gefilden, genauer gesagt in Berchtesgaden. Warum in die Ferne schweifen, wie der Volksmund so schön sagt, wenn das Gute so nahe liegt? Oder anders gesagt: Warum sind wir 2015 tausende von Meilen gereist, um uns den berühmten Peyto See in Kanada anzuschauen, wenn es mit dem Königssee eine nicht minder bekannte Naturschönheit gibt, die nur ein paar Bahnstunden entfernt ist?
Schon bei der Anreise kann man den Nervenkitzel genießen, der heutzutage mit jeder Bahnfahrt einhergeht. Kommt man tatsächlich an? Erreicht man seine Anschlusszüge? Welche Ausreden benutzt die Bahn heute? Überraschenderweise waren wir sogar einigermaßen pünktlich, auch wenn die Züge gegen Ende der Sommerferien hoffnungslos überfüllt waren. Vom Bahnhof in Berchtesgaden ging es dann zum Hotel, das man bereits vom Gleis aus sehen konnte – wie es ungefähr fünfzig Meter über uns am Hang klebte. Beim Aufstieg konnten wir dann auch gleich unsere Kondition testen, mit eher ernüchternden Ergebnissen.
Das Hotel stammt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, wurde aber ungefähr vor fünfzig, sechzig Jahren generalsaniert und strahlt den rustikalen Charme der späten Sechziger, frühen Siebziger aus. Glücklicherweise hatten wir das letzte, freie Zimmer ergattert, das im obersten Stock und damit am weitesten vom Eingang entfernt lag. Dummerweise waren wir so früh dran, dass es erst in einigen Stunden beziehbar war. Also ließen wir das Gepäck einlagern und machten uns auf den Weg zu einer ersten Wanderung. Man will schließlich keine Zeit verschwenden, wenn man nur drei Tage Urlaub hat.
Leider ist dann genau das passiert, und Schuld waren die Busfahrer, die ziemlich rüde und unkooperativ sind. Unser Bus stand noch an der Haltestelle, als wir ankamen, nur konnten wir nicht so schnell die Straße überqueren, und als wir es endlich geschafft hatten, weigerte sich der Fahrer, uns noch reinzulassen, und fuhr los. Der nächste Bus ging erst in einer Stunde. Wir hatten später noch weitere unangenehme Erlebnisse dieser Art und haben dadurch einige Stunden verloren. Dennoch ist der Nahverkehr eine gute Alternative zum eigenen Auto, weil die Parkplätze meistens überfüllt sind.
Unsere erste Wanderung führte uns in die Wimbachklamm, die mit nur zweihundert Metern Länge eher kurz ist, aber dafür umso schöner. Wir hatten Glück, denn die Sonne fiel am Nachmittag in das enge, zerklüftete Tal mit seinen malerischen Wasserfällen und dem wild tosenden Gebirgsbach und verwandelte es in eine Märchenlandschaft. Besser hätte unser Einstieg nicht verlaufen können.
Auch sonst hatten wir viel Glück mit dem Wetter. In den Bergen muss man ja jederzeit mit Gewittern rechnen, und es hat tatsächlich jeden Tag etwas geregnet, aber immer erst am späten Nachmittag, nachdem wir unsere Wanderungen beendet hatten. Sogar auf dem Weg zum Restaurant hörte der Niederschlag vorübergehend auf, so dass wir trockenen Fußes hin- und zurückkamen. Tja, wenn Engel reisen …
Apropos Essen: Im Vorfeld hatten wir uns auf deftige bayrische Küche eingestellt, haben uns dann aber jeden Abend anders entschieden. Zum einen war uns nicht nach Schweinshaxen, Schnitzeln oder fetten Braten, zum anderen lagen ein vorzüglicher Italiener, ein Grieche und ein Chinese in unmittelbarer Nähe des Hotels, und wir waren meist zu müde und erschöpft, um durch die halbe Stadt zu laufen.
Am nächsten Tag stand natürlich der Königssee auf dem Programm, eines der beliebtesten Urlaubsziele in Deutschland, was man an den Menschenmassen deutlich spürt. Vor allem Einheimische und Österreicher waren unterwegs, und sehr viele Asiaten. Schönau, das direkt am See liegt, hat sich in einen touristischen Hotspot verwandelt und scheint nur noch aus Restaurants, Biergärten und Souvenirshops zu bestehen. Und einer Ausstellung im ehemaligen Bahnhof über Magda und Romy Schneider, die elf Jahre ihrer Kindheit hier verbracht hat.
Die Fahrt über den See in relativ kleinen Elektrobooten gehörte definitiv zu den Highlights unserer Reise. Ich hatte mir das Ganze etwas kitschig vorgestellt, so mit einem lederbehosten Trompeter, der uns das Echo vorführt, aber es hatte dann doch eher einen maritimen Charakter, und man konnte einiges über die Gegend lernen. Um den Menschenmassen weitgehend aus dem Weg zu gehen, waren wir relativ früh unterwegs, als noch Nebelschwaden über dem Wasser hingen und die Welt still und beschaulich dalag. Selbst die Menschen unterhielten sich mit gedämpften Stimmen und ließen die Schönheit der Landschaft auf sich wirken.
In Salet unternehmen wir die obligatorische Wanderung zum Obersee, die nur wenige Minuten dauert, und von dort aus ging es weiter am Ufer entlang zur Fischunkelalm, wo wir bei frischer Buttermilch mit Himbeeren eine Pause einlegten. Verwegen wie ich bin habe ich noch einen Abstecher zum Röthbach-Fall, dem höchsten Wasserfall Deutschlands, gemacht, nur um festzustellen, dass jemand vergessen hat, das Wasser anzustellen. Dafür habe ich ein paar neugierige Kühe getroffen, die mit ihren Glocken für die passende musikalische Untermalung gesorgt haben.
Als wir frühe Vögel uns auf den Rückweg machten, war es bereits Mittag, und es wurde langsam voll. Richtig voll. Stellenweise herrschte auf dem Wanderweg ein Gedränge wie auf dem Markusplatz in Venedig. In St. Bartholomä, dem zweiten Stopp auf der Rundreise, haben wir uns die pittoreske gleichnamige Wallfahrtskirche angeschaut und ein Brötchen mit geräucherten Seeforellen gegessen, eine lokale Spezialität, die sehr zu empfehlen ist. Den Rundgang am Ufer entlang und durch einen schattigen Wald kann man sich aber sparen.
Ein weiterer beliebter Aussichtspunkt ist der Malerwinkel, von dem man einen Großteil des Sees überblicken kann und den man in nur zwanzig Minuten erreicht. Allerdings waren wir bereits ziemlich müde von unserer Wanderung rund um den Obersee, und da es zudem sehr heiß war, hat es uns schnell wieder in den Biergarten gezogen.
Zurück im Hotel haben wir noch kurz darüber nachgedacht, zu einer Therme zu fahren, aber die Vorstellung, sich erneut dem Nahverkehr anzuvertrauen und dann noch ein paar Stunden zu schwimmen, war einfach zu ermüdend. Alternativ hätte auch unser Hotel einen Pool gehabt, aber selbst dazu fehlte uns die Energie. Muss an der Höhenluft liegen. Oder an den vielen Treppen im Hotel.
Für unseren letzten Tag hatten wir eine Wanderung vorbereitet, die zu einem malerischen Berggipfel führt, von dem aus man den gesamten Königssee bewundern kann. Einerseits verstehe ich den Reiz, andererseits frage ich mich immer, warum ich irgendwo hochsteigen soll, nur um zu sehen, wie wunderschön es dort ist, wo ich zuvor war. Letzen Endes haben wir uns gegen diese Wanderung entschieden, weil sie zu anstrengend ist. Stattdessen haben wir eine weitere Klammwanderung unternommen.
Die Almbachklamm ist mit knapp drei Kilometern der Wimbachklamm längenmäßig um einiges überlegen und fast genauso schön. Insbesondere der erste Abschnitt, der durch ein tief eingeschnittenes, zerklüftetes Felstal führt, durch das das Wasser rauscht, ist wildromantisch und malerisch. Später weitet sich das Tal ein wenig, überrascht mit einem Wasserfall, bewaldeten Hängen und einem sonnenbeschienenen Fluss, dem man am Ende entweder weiterfolgen kann oder man macht sich, wie wir, an den Aufstieg und kürzt so den vierstündigen Rundweg etwas ab.
Dieser Aufstieg über steile Stufen und schmale Pfade, die sich in Serpentinen den Bergrücken hochschlängeln, hatte es ganz schön in sich. Schon auf dem Weg durch die Klamm hatten wir über dreihundert Stufen zu bewältigen, hier kamen noch etliche weitere hinzu. Aber irgendwann erreichten wir endlich schnaufend und prustend den Gipfel und folgten dem Weg zur Wallfahrtskirche Mariä Heimsuchung in Ettenberg, die einen entscheidenden Vorteil besitzt: Direkt daneben liegt eine Gastwirtschaft, wo wir den weltbesten Germknödel gegessen haben.
Eine Binsenweisheit besagt, dass man, wenn man auf einen Berg hinaufsteigt, diesen auch wieder herunterklettern muss. Der Abstieg war furchtbar. Wir haben den Hammerstiel Steig genommen, der eng am steil abfallenden Berg entlangführt, mit hunderten von unregelmäßigen Stufen und handtuchschmalen Pfaden, auf denen man schwindelfrei sein sollte. Angeblich sollte man sein Ziel in 45 Minuten erreichen, aber diese Angabe war, wie schon bei den Zeiten für den Hinweg, wohl für agile Bergziegen errechnet worden, denn wir haben deutlich länger gebraucht.
Trotz der Strapazen wollte ich mir noch ein wenig Berchtesgaden anschauen, das eine entzückende kleine Stadt ist, und ich bin zu einem kleinen Rundgang aufgebrochen, während Mark G. seine müden Knochen geschont und etwas gearbeitet hat. Leider war es bereits zu spät, um noch viel zu besichtigen, aber vielleicht kommen wir ja eines Tages wieder.
Bei unserer Abreise am Freitag hatten wir den zweitschlimmsten Muskelkater unseres Lebens (schlimmer war nur der Auf- und spätere Abstieg über eine steile Leiter in den Badlands vor zwei Jahren). Bei all den vielen Stufen, die wir zurücklegen mussten, nicht überaschend. Selbst der labyrinthische Weg zu unserem Hotelzimmer führte über acht Treppen, und nur die letzten beiden Stockwerke waren mit einem Aufzug verbunden. Kein Wunder, dass wir schon nach einem Besuch im Frühstücksraum erschöpft waren. Möglicherweise lag es aber auch daran, dass wir in drei Tagen rund 40 Kilometer gewandert waren.
Insgesamt war es ein wunderschöner, wenn auch überraschend anstrengender Kurzurlaub. Der Königssee stand schon lange auf meiner Bucket-List, Berchtesgaden mit dem Blick auf den Watzmann ist traumhaft, und die Wanderungen durch die Klammen waren atemberaubend. So schön kann Heimat sein.