Hör auf zu lügen

Die Rückkehr in den Heimatort ist ein beliebtes Sujet sowohl in der Literatur als auch im Film. In der Regel geht es um nicht verarbeitete Konflikte, die meist zum Verlassen des Ortes geführt haben, um Rückbesinnung, Neuausrichtung und vor allem Heilung. Insofern ähneln sich die Stoffe alle. Was sie einzigartig macht, sind die Figuren, ihre Wunden in der Vergangenheit, ihre Motive und Charaktere.

Der französische Film von Olivier Peyon, der sowohl Regie geführt als auch den autobiografischen Roman von Philippe Besson adaptiert hat, wurde auf einer Tradeshow während des Münchner Filmfests gezeigt. Allerdings bereits im vergangenen Jahr, weshalb es höchste Zeit ist, diesen Film hier vorzustellen.

Hör auf zu lügen

Nach 35 Jahren kehrt der gefeierte Romanautor Stéphane Belcourt (Guillaume de Tonquédec) in seine Heimatstadt zurück, um anlässlich der Zweihundertjahrfeier einer Cognacfirma eine Rede zu halten. Einer der Mitarbeiter, der junge Lucas Andrieu (Victor Belmondo, der Enkel von Jean-Paul), entpuppt sich dabei als der Sohn seiner Jugendliebe. In seinen Erinnerungen erlebt der Autor noch einmal die geheime Liebe zwischen dem siebzehnjährigen Stéphane (Jérémy Gillet) und seinem Schulkameraden Thomas (Julien de Saint Jean), die abrupt und ohne Erklärungen endete. Auf der vorsichtigen Suche nach Antworten erfährt Stéphane, dass Lucas seinen Besuch arrangiert hat.

Philippe Besson hat in seinem Roman eigene Jugenderinnerungen verarbeitet, und Stéphane erscheint dadurch zwangsläufig wie sein alter Ego. Einige der Romantitel, die Stéphane zugeschrieben werden, sind tatsächlich mit den Büchern Bessons identisch. Dadurch entsteht ein interessantes Spiel zwischen Fiktion und Realität, das vermutlich noch reizvoller ist, wenn man die Romane Bessons kennt.

Als Zuschauer erfährt man schon sehr früh von Stéphanes Vergangenheit. Seine Affäre mit Thomas wird durch Rückblenden etabliert und beginnt mit einem sexuellen Abenteuer, aus dem erst im Laufe der Zeit mehr wird. Dieser Teil der Geschichte spielt Mitte der Achtzigerjahre, und auch wenn die Liebesgeschichte solide aufgebaut wird, mit den üblichen Sujets wie Angst vor Entdeckung und Bloßstellung, Schwulen- und Selbsthass spielt, findet sie leider nie eine emotionale Mitte. Sowohl Stéphane als auch Thomas bleiben einem seltsam fremd und werden zu oberflächlich gezeichnet.

Auch im Handlungsstrang des erwachsenen Stéphane, der als alternder Schriftsteller eine frühe Lebensbilanz zieht, über gescheiterte Beziehungen nachdenkt und eine Schreibblockade beklagt, passiert weitgehend wenig. In erster Linie versucht er, mehr über Thomas zu erfahren, ohne Lucas dabei zu verraten, was ihn mit seinem Vater verbunden hat. Durch diese Scharade entsteht eine zu große Distanz zwischen den Figuren, die erst spät überwunden wird, wenn Stéphane herausfindet, dass der junge Mann sehr viel mehr über die Liebesbeziehung der beiden Jugendlichen weiß als er zugibt.

Leider dauert es viel zu lange, bis wir endlich diesen Punkt der Ehrlichkeit erreichen und die beiden Männer beginnen, sich über Thomas zu unterhalten. Bis dahin gleitet die Story viel zu gemächlich dahin, ohne Konflikte in der Vergangenheit oder Gegenwart. Erst im letzten Drittel, wenn die Figuren ihre Abwehrhaltung aufgeben, gewinnt die Geschichte an Tiefe und Bedeutung. Wir erleben einen jungen Mann, der herausfinden will, warum sein Vater ihn verlassen hat, und einen Schriftsteller, der sein ganzes Werk seiner Jugendliebe gewidmet hat, ohne zu verstehen, warum dieser mit ihm Schluss gemacht hat. Daraus entsteht schlussendlich eine traurige Geschichte über das Verlassenwerden und über die niederdrückende Kraft von Scham und Angst. Spät, sehr spät, entfaltet der Film endlich die emotionale Vehemenz, die man sich schon von Anfang an gewünscht hätte.

Der Titel Hör auf zu lügen bezieht sich auf die Äußerungen von Stéphanes Mutter, die dem fantasiebegabten Jungen verboten hat, sich Geschichten über seine Mitmenschen auszudenken. Er verweist aber auch auf die Lügen, die wir uns und anderen erzählen, um vom Schmerz oder Verletzungen abzulenken. Aber, und auch das erzählt der Film, letzten Endes kann uns nur die Wahrheit davon befreien.

Note: 3-

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.