Auf meiner (leider ziemlich langen) Liste mit Klassikern, die ich noch nie gesehen habe, stehen auch Easy Rider und Der Wilde. Zum Teil liegt es daran, dass ich mit der Biker-Subkultur, die so fernab von meiner persönlichen Lebenswirklichkeit liegt, nicht viel anfangen kann. Dass ich mir dennoch The Bikeriders gleich am Starttag angesehen habe, hat mit dem vielversprechenden Trailer, der herausragenden Besetzung und dem Regisseur zu tun, von dem ich Mud und Midnight Special ganz gerne mochte und dessen Bildsprache im Trailer mich neugierig auf den Rest gemacht hat.
The Bikeriders
Mitte der Sechzigerjahre gründet Johnny (Tom Hardy) den Motorradclub „Vandels“, nachdem er Der Wilde im Fernsehen gesehen hat. Schon zuvor lebte er seine Begeisterung für Motorräder aus, indem er regelmäßig an Rennen teilnahm, und aus diesem Milieu stammen auch die ersten weiteren Mitglieder, zu denen sich später der jugendliche Rebell Benny (Austin Butler) gesellt, für den Johnny ein väterlicher Freund wird. Im Laufe der Jahre wird der Club immer größer, bekommt weitere Chapter und regen Zulauf von jungen Männern, die eher der kriminellen Szene zuzurechnen sind und die Dominanz der älteren Mitglieder in Frage stellen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden die ersten Rocker- oder Bikergangs in den USA, und der Hollister Riot von 1947, eine mehrtägige, gewalttätige Auseinandersetzung zwischen Bikern und der Polizei, gilt in den Gründungsmythen als Bluttaufe dieser Subkultur. Zwar hatte es schon zuvor Motorradclubs und Rennen gegeben, in Hollister fanden sie bereits seit 1930 statt, doch waren diese Vereine in der American Motorcyclist Association (AMA) organisiert, die eine Aufnahme neuer Clubs mit zweifelhafter Reputation und provokanten Namen wie die Boozefighters ablehnte. Über den Vorfall in Hollister, bei dem angeblich Mitglieder der Boozefighter ein Rennen der AMA gestürmt haben sollen, wurde zunächst in einer Reportage berichtet, aus der dann eine Kurzgeschichte wurde, auf der wiederum Der Wilde basiert.
Dieser Film hatte maßgeblichen Einfluss auf die Subkultur und ihre männlichen Vertreter, die teilweise die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erlebt hatten und nicht wieder zurück ins zivile Leben fanden oder sich von den Regeln einer zunehmend konservativen Gesellschaft eingeschränkt fühlten. Sie waren Außenseiter mit einer Neigung zu Alkohol und Gewalt, Entwurzelte, denen die Autoren der Beatgeneration eine Stimme gab, und sie standen in direkter Tradition eines uramerikanischen Mythos: Das Motorrad ersetzte das Pferd des einsamen Cowboys, der Highway die Prärie, das Diner den Saloon. Und wie früher zu Banden, fanden sich die Outlaws zu MCs zusammen.
Der Outlaws Motorcycle Club, der als Vorbild für die Chicago Vandals im Film dient, ist jedoch viel älter als sein filmisches Äquivalent und wurde bereits 1935 gegründet, später wurden daraus die Chicago Outlaws. Danny Lyon, im Film gespielt von Mike Faist, war selbst Mitglied des Clubs und veröffentlichte 1968 ein Buch über sie, das Drehbuchautor und Regisseur Jeff Nichols als Grundlage diente.
Nichols weicht aber teilweise stark von der Historie ab, um seine Story zu erzählen, obwohl er sich gleichzeitig sehr große Mühe gibt, Lyons Fotos so detailgetreu wie möglich nachzustellen. Während des Abspanns kann man die Originalfotos sehen und feststellen, dass sich Nichols akribisch an ihnen orientiert hat.
Die Geschichte wird rückblickend erzählt. Lyon unterhält sich mit Kathy (Jody Comer) über die Ereignisse, die zur Gründung des Clubs geführt haben, über die ersten Mitglieder und wie sich die Organisation innerhalb von ungefähr acht Jahren verändert hat. Zusammen mit der recht bürgerlichen Kathy betritt man diese gefährliche Welt der Rocker, lernt ihre Mitglieder und Regeln kennen. Doch schon bald driftet die Story in eine unerwartete Richtung ab, denn zunächst erzählt Nichols eine klassische Liebesgeschichte zwischen ihr und Benny, den sie schon fünf Wochen später heiratet.
Es ist erstaunlich, wie humor- und liebevoll dieser Teil erzählt wird – und wie sehr Nichols die Subkultur idealisiert. Vermutlich schwingt hier der Einfluss Lyons mit, dessen Buch vermutlich seinerzeit die Easy Rider-Romantik bediente. Der Film ist in seiner ersten Hälfte ungeheuer unterhaltsam, witzig und verführerisch elegant. Die Biker erscheinen wie eine Mischung aus Jungenbande und Robin Hoods Merry Men, die Bier am Lagerfeuer trinken, um die Wette fahren und mit ihren Familien Picknicks veranstalten. Es ist eine raue Männerwelt mit einem Ehrenkodex, noch meilenweit entfernt vom Sündenfall der organisierten Kriminalität.
Eine klassische Geschichte will sich jedoch leider nicht entfalten. Im Zentrum stehen vor allem Johnny, der anfangs der Macht des Anführers erliegt und voller Stolz seinen Club immer weiter vergrößert, bis er merkt, dass ihm alles über den Kopf zu wachsen droht. Am Ende sucht er nach einem Nachfolger und denkt an Benny, obwohl selbst ihm klar sein sollte, dass dieser als Anführer ungeeignet ist, weil er zu unbeherrscht, undiszipliniert und freiheitsliebend ist.
Mit Kathy gibt es eine kühle, scharfsinnige Beobachterin, die als Chronistin festhält, wie sich der Club verändert, bis er schließlich alles verrät, wofür er einst gegründet wurde, und die gleichzeitig bissig und pointiert das Geschehen kommentiert. Sie definiert auch das Männlichkeitsbild, das die Biker von sich selbst haben, nämlich das der harten Männer, die selbst die schlimmsten Verletzungen ohne einen Mucks wegstecken können und sich nur dann Gefühle leisten, wenn ihre Väter sterben. Aber dieses Bild wird nie hinterfragt, sondern als Vorbild festgelegt.
Im scharfen Gegensatz dazu stehen die jungen Kriminellen, die neu in den Club drängen und sein Erscheinungsbild für immer verändern werden. Insofern ist die zweite Hälfte des Films die Geschichte eines (moralischen) Niedergangs und erinnert bisweilen an Scorseses Mafia-Epen wie Casino, in denen dieser den Übergangen von den Gentleman-Mobstern der Nachkriegszeit zu den moralisch verkommenen Gangstern von heute dokumentiert. In Ermangelung einer stringenten Geschichte bleibt dieser Teil jedoch bruchstückhaft und episodisch.
Leider ist dieser Teil auf seine Weise ebenso verklärt wie die Gründung des Clubs, der in Wirklichkeit immer der Kriminalität verhaftet war und sich seit Ende der Sechzigerjahre in einem sich sukzessive zuspitzenden Krieg mit den Hells Angels befand. Aber das passt vermutlich nicht in Lyons romantische Sicht, die Nichols übernommen hat, ohne sie zu hinterfragen. Auf diese Weise gelingt ihm zwar, ein tragisches und stellenweise sentimentales Ende zu kreieren, das als Schwanengesang einer Ära gut zur Stimmung des Films passt, man sollte sich nur nicht zu sehr davon verführen lassen.
Insgesamt ist The Bikeriders aber ein großartig gespieltes, visuell überzeugend inszeniertes, kraftvolles Drama, das man sich nicht im Kino entgehen lassen sollte.
Note: 3+