Ja, ist denn schon wieder Weihnachten? Seit meiner Kindheit läuft Der kleine Lord in schöner Regelmäßigkeit kurz vor den Feiertagen in der ARD und gehört damit so fest zum Programm wie die Sissi-Trilogie oder Drei Nüsse für Aschenputtel. Doch diese Verfilmung von 1980 mit Ricky Schroder und Alec Guinness, die sich bei uns großer Beliebtheit erfreut, ist in vielen, wenn nicht den meisten Ländern der Welt nur eine von vielen Adaptionen, allerdings nicht die populärste. Shocking!
Der Roman von Frances Hodgson Burnett, der 1886 erschien, ist ein Klassiker, der bereits 1914 das erste Mal verfilmt wurde. Als David O. Selznick sich 1936 von MGM löste, um sein eigenes Studio zu gründen, war dies der Stoff, den er als erstes auf die große Leinwand bringen wollte. Die Rechte lagen damals noch bei Mary Pickford, die 1921 die bereits dritte Adaption produziert und darin nicht nur den kleinen Lord Fauntleroy, sondern auch seine Mutter gespielt und damit tricktechnisch neue Maßstäbe gesetzt hatte.
Selznick setzte für seine Hauptfigur auf Freddie Bartholomew, den er mit seinen beiden letzten Filmen bei MGM, Anna Karenina und David Copperfield, zum größten (männlichen) Kinderstar gemacht hatte. Ein weiterer Kinderstar, der fünfzehnjährige Mickey Rooney, verkörperte den Schuhputzer Dick.
Bislang hatte ich diese Version des Klassikers, die in vielen Ländern der Welt als die beste gilt, nie gesehen, lief sie zwar bis Ende der Siebzigern häufiger bei uns im Fernsehen, danach aber aus unerfindlichen Gründen gar nicht mehr. Woran das wohl liegen könnte? Zufällig sah ich vor einigen Tagen jedoch, dass der Film demnächst bei Prime Video aus dem Angebot verschwindet, und Weihnachten hin oder her, ich musste ihn sehen.
Der kleine Lord
Nach dem Tod seines Vaters wächst Ceddie (Freddie Bartholomew) behütet bei seiner Mutter (Dolores Costello Barrymore) in Brooklyn auf. Seine besten Freunde sind der Schuhputzer Dick (Mickey Rooney), der Ladenbesitzer Mr. Hobbs (Guy Kibbee) und eine alte Apfelverkäuferin (Jessie Ralph). Eines Tages erhält die Familie die Nachricht, dass Ceddie als Erbe seines Großvaters, des Earl of Dorincourt (C. Aubrey Smith), eingesetzt wurde. Zusammen mit seiner Mutter reist der Junge nach England.
Im Grunde ist es überflüssig, die Handlung wiederzugeben, da es vermutlich kaum jemanden gibt, der sie nicht kennt. Auch diese Verfilmung von Drehbuchautor Hugh Walpole und Regisseur John Cromwell orientiert sich am Plot des Romans sowie den dort vorgegebenen Charakterisierungen der Figuren. Und warum sollte man auch ändern, was sich so gut bewährt hat?
Dennoch fallen einem sofort einige Unterschiede zu der Version von 1980 auf: Die Apfelverkäuferin ist eine Rolle, die es dort nicht gibt (und die streng genommen auch überflüssig ist), Dick steht Ceddie nun altersmäßig viel näher und ist ein glaubwürdigerer Freund, mit dem er zusammen auch eine handfeste Prügelei gegen eine Straßengang besteht. Darüber hinaus fehlen einige Episoden, die die Veränderungen im Charakter des Großvaters verdeutlichen, die Renovierung des Dorfes beispielsweise, die nur am Ende kurz erwähnt wird. Durch die eingesparte Zeit ist es möglich, den Figuren mehr Raum zu geben und ihnen mehr Tiefe zu verleihen. Das kommt insbesondere dem Earl zugute, der hier wesentlich zugänglicher und weniger steif erscheint.
Vielleicht liegt dies aber auch an der ausgesprochen amerikanischen Ausgestaltung des Films. Man sieht ihm nicht nur die Studiokulisse an, die zwar deutlich opulenter ist als die doch sehr den Siebzigern verhaftete, etwas unterproduzierte Kulisse (von den zu schlichten Kostümen ganz zu schweigen) des Schroder-Guinness-Klassikers. Man spürt zudem, obwohl einige britische Schauspieler eingesetzt wurden, dass hier ein eher amerikanischer Geist herrscht. Das saloppe Verhalten mancher Dienstboten wirkt ebenso befremdlich wie die zum Teil vollkommen falschen Anreden oder die missachtete Etikette. Wer schon mal Downton Abbey gesehen hat, wird stellenweise mit den Augen rollen.
Das alles tut dem Vergnügen aber keinen Abbruch, auch wenn man (als Deutscher) unweigerlich den Film mit der 1980er Version vergleicht. Bartholomew macht seine Sache fast so gut wie Schroder, wirkt insgesamt aber glatter und ein wenig künstlicher. Dafür ist Costello Barrymore als Mutter viel zuckriger und damenhafter als die eher spröde Connie Booth. Leider spielt die Freundin/Gesellschafterin Mary (hier: Una O’Connor) kaum eine Rolle, und auch das kecke Hausmädchen taucht nirgends auf.
Der große Knackpunkt der Story ist nach wie vor ihr dritter Akt mit der Hochstaplerin, die durch einen kuriosen Zufall enttarnt wird. Das ist so an den Haaren herbeigezogen, dass man jedes Mal innerlich aufstöhnt und am liebsten ausschalten würde. In diesem Fall wirkt die Geschichte jedoch nicht ganz so fadenscheinig, wenngleich sie nach wie vor unglaubwürdig ist. Und sie endet auch nicht an Weihnachten, sondern an Ceddies zehntem Geburtstag, womit sie näher am Roman ist.
Wer Der kleine Lord liebt, sollte dieser Version unbedingt eine Chance geben, auch wenn sie schwarz-weiß ist und zwei, vermutlich neu hinzugefügte Szenen der restaurierten Fassung nicht synchronisiert sind. Man erhält jedoch einen frischen Blick auf einen liebgewordenen Klassiker und kann neue Nuancen an ihm entdecken. Und das ist beinahe wie Weihnachten im Sommer.
Note: 2