Soll man Filme, die einem nicht gefallen, bis zum Ende ansehen oder nicht? Im Forum kam die Frage vor einiger Zeit auch einmal auf, und manche waren der Meinung, sie müssten einen einmal begonnenen Film auch bis zum Schluss anschauen. So habe ich früher ebenfalls gedacht, ich hatte das Gefühl, es dem Film oder zumindest den Anstrengungen seiner Macher schuldig zu sein. Inzwischen sehe ich das gelassener: Wenn mich eine Geschichte nicht packt, die Inszenierung misslungen ist oder ich keinerlei emotionale Bindung zu den Figuren aufbauen kann, ist es besser, die Reißleine zu ziehen. Sicher, niemand ist bisher an Langeweile gestorben, aber wir alle können auch Besseres mit unserer knapp bemessenen Zeit anzufangen.
Natürlich muss das letzten Endes jeder für sich entscheiden, und einen Film im Kino breche ich auch nur sehr, sehr selten ab (zuletzt bei der einzigen Eberhofer-Verfilmung, die ich je gesehen habe). Den Film, um den es heute geht, habe ich tatsächlich bis zum Schluss angeschaut, auch wenn es stellenweise eine harte Entscheidung war.
Thelma
Thelma (Eili Harboe) ist gerade von ihrer ländlichen Gemeinde nach Oslo gezogen, um Biologie zu studieren. Aus einem christlichen, konservativen Elternhaus stammend, fühlt sie sich anfangs etwas verloren. Ihre überfürsorglichen Eltern (Henrik Rafaelsen und Ellen Dorrit Petersen) rufen sie zudem ständig an und wollen bis ins kleinste Detail alles über ihr Leben wissen. Als Thelma Anja (Kaya Wilkins) kennenlernt und sich langsam in sie verliebt, beginnt sie, das elterliche Korsett abzustreifen und selbstbestimmter zu leben. Gleichzeitig erleidet sie Krampfanfälle, die mit übernatürlichen Phänomenen einhergehen.
Die Geschichte erinnert in ihren Grundzügen an Carrie: Eine junge Frau mit übersinnlichen Fähigkeiten, die in einem streng religiösen Elternhaus aufgewachsen ist und schüchterne erste Schritte in die Welt macht, findet in einem schmerzhaften Prozess zu sich selbst. Doch der Unterschied zwischen den Filmen könnte nicht größer sein. Während Carrie düster und gewalttätig ist, ist Thelma licht und kontemplativ.
Man sollte bei Thelma auch nicht von einem Horrorfilm im klassischen Sinn sprechen, sondern von einem Mystery-Thriller, einem eher europäischem Genre, das sich zumeist in einer nebulösen Atmosphäre des Ungefähren bewegt, vor allem auf die Psychologie der Figuren und – bestenfalls – sanften Grusel setzt und weniger auf plakative Schockmomente. Der Film von Joachim Trier, der zusammen mit Eskil Vogt auch das Drehbuch schrieb, beginnt aber immerhin mit einer ungemein starken Szene: Der Vater nimmt die sechsjährige Thelma mit auf einen Jagdausflug und plant, das Kind zu erschießen, was er aber letztlich nicht tun kann. Mit diesem schockierenden, an ein Märchen erinnernden Bild hat er den Zuschauer bereits eingefangen.
Leider verspielt der Regisseur in der Folge den Vorabbonus, dem man ihm schenkt. Thelmas Anfänge in Oslo, die Kontrollanrufe der Eltern, ihr ungelenkes Interagieren mit Gleichaltrigen ist schnell etabliert, wird aber unnötig in die Länge gezogen. Was gezeigt wird, ist, obwohl solide erzählt, banal und vermag den Zuschauer, der zunehmend ungeduldig auf den eigentlichen Beginn der Geschichte wartet, nicht zufrieden stellen. Erst spät und dann sehr zögerlich entfaltet sich das Rätselhafte, dringt das Mystische in die Geschichte ein, wenn Thelma das erste Mal Anja begegnet, einen Anfall erleidet und gleichzeitig Vögel gegen die Fensterscheibe knallen.
Aber selbst diese, in anderen Filmen schockierenden oder sogar unheimlichen Momente werden beiläufig und nüchtern erzählt. Trier will seine Zuschauer nicht gruseln, nicht erschrecken, sondern nimmt sie mit auf eine Erkundungstour in Thelmas Psyche. Wie es üblich ist, werden auch wissenschaftliche Erklärungen abgeliefert, zumindest für ihre Anfälle, die eher psychosomatischer Natur sind und mit traumatischen Kindheitserlebnissen zu tun haben.
In der zweiten Hälfte des Films erkundet Thelma dann ihre Vergangenheit, erinnert sich an bestimmte Erlebnisse (die hier nicht verraten werden), die frappierende Ähnlichkeit mit ihren Erfahrungen als Erwachsene haben, und erfährt mehr über ihre Familiengeschichte, die über einige Geheimnisse verfügt. Das klingt an sich nicht unspannend, ist auch gut durchdacht und psychologisch stimmig.
Auch Thelmas Reifungsprozess ist gut erzählt, ihr erwachendes sexuelles Begehren, mit dem sie zunächst nicht umgehen kann, weil es allem widerspricht, was ihr Glaube sie gelehrt hat, wie sie ihm hilflos ausgeliefert ist und sich schließlich zu einer selbstbewussten und befreiten jungen Frau entwickelt – all das ist stimmig und wird von Eili Harboe hervorragend gespielt. Man fragt sich allerdings auch, ob es die übernatürlichen Elemente dafür wirklich gebraucht hätte.
Was den Film trotz seiner fundierten Psychologie, seiner klugen Figurenbeschreibung und -entwicklung aber zu einer echten Geduldsprobe macht, ist sein kaum vorhandenes Tempo. Die recht überschaubare Handlung schleppt sich scheinbar endlos dahin, Sachverhalte, die mit wenigen Bildern oder Szenen vermittelt werden könnten, werden unnötig ausgewalzt, der Zuschauer komplett unterfordert. Das Interesse an den Figuren ist bestenfalls ein intellektuelles, eine emotionale Annäherung ist bei der distanzierten Regie nur schwer möglich. Selbst gegen Ende, wenn die Geheimnisse aufgedeckt werden und Thelma sich, ähnlich wie Carrie, gegen ihre Eltern zur Wehr setzt, geschieht das auf unaufgeregte, beiläufige Art und Weise.
Als Selbstermächtigungs- und Emanzipationsdrama hätte die Story auch wunderbar ohne den Mystery-Anstrich funktioniert, der Genrefans nicht einmal ein müdes Lächeln entlocken dürfte. Wer ein ruhiges, psychologisches Arthausdrama mag, das so klar und aufgeräumt daherkommt wie ein skandinavisches Designkonzept, sollte dem Film eine Chance geben. Wer eher auf handfesten Horror steht, sollte sich lieber noch einmal Brian De Palmas Carrie ansehen.
Note: 4+