Bleiben wir diese Woche auf der britischen Insel. Das New British Cinema ist inzwischen ein ganz schön alter Hut, noch dazu einer, der, um bei dem Bild zu bleiben, schon vor ungefähr zwei Jahrzehnten ausgemustert und zur Altkleidersammlung gegeben wurde. Das britische Kino der letzten Jahre ist nur noch ein Schatten dessen, was es einst war. Und daran können riesige Erfolge wie die Potter-Adaptionen oder einige wenige gelungene Ausnahmen nichts ändern. Die Briten stecken, wie der Rest Europas, in einer kreativen Kino-Krise.
Seinen Siegeszug angetreten hat das New British Cinema, als es dem Vereinigten Königreich besonders schlecht ging. Großbritannien war der „kranke Mann Europas“, und Margaret Thatcher hat es mit ihrer Politik der Privatisierungen noch schlimmer gemacht. Zumindest für weite Teile der Gesellschaft. Aber Zeiten der Not können auch fruchtbar sein, und so gab es im Bereich des Films eine Blütezeit. Das britische Kino hat sich von Hollywood befreit und eine eigene Handschrift gefunden.
Es begann 1981 und 82 mit Die Stunde des Siegers und Ghandi, womit ein wichtiger Stützpfeiler, der Historienfilm (oder Heritage-Film), bereits etabliert war, der auf das reiche Erbe der aufwändigen BBC-Literatur-Verfilmungen aufbauen konnte. James Ivory wurde hier einer der wichtigsten Vertreter. Das Gegenstück war das Sozialdrama, das einen scharfen Blick auf die gesellschaftlichen Verwerfungen der Thatcher-Jahre warf und unter anderem von Ken Loach und Stephen Frears dominiert wurde. Ein Markenzeichen dieses britischen Kinos war der wunderbare, subversive Humor, der dafür sorgte, dass diese Filme kein Trauerspiel wurden. Anders als etwa in anderen europäischen Ländern.
Darüber hinaus gab es noch die britische Komödie, die, auch und vor allem dank Richard Curtis, international riesige Erfolge feierte. Doch diese Zeiten sind lange vorbei. Bei den Produktionen, die heute in die Kinos kommen, erkennt man teilweise noch die Handschrift des New British Cinema, aber es fehlt ihnen leider an Witz, Genauigkeit, Schärfe und Mut, und die alten Streiter haben Biss und Verve eingebüßt.
Als vor einiger Zeit The Last Bus in unsere Kinos kam, war ich neugierig, ob es ihm gelingen würde, an die alten Traditionen anzuknüpfen, aber dann konnte ich ihn nicht sehen und habe ihn auf Prime Video nachgeholt. Mit dem Brexit, der Pandemie sowie den Auswirkungen der Inflation geht es Großbritannien heute wieder schlechter als vielen anderen europäischen Ländern, die ökonomischen Bedingungen für eine Renaissance des New British Cinema wären also gegeben. Fehlen nur noch die kreativen Talente.
Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr
Nach dem plötzlichen Tod seiner Frau macht sich der betagte Tom (Timothy Spall) vom äußersten Zipfel Schottlands auf nach Land’s End im äußersten Südwesten der britischen Insel – mit dem Linienbus. Unterwegs begegnet er hilfsbereiten und schwierigen Menschen und erinnert sich an seine Frau und warum sie vor einem halben Jahrhundert nach Schottland gezogen sind.
Der Bandwurmtitel wurde vermutlich gewählt, um an einen anderen britischen Film zu erinnern: Der Engländer, der auf einen Hügel stieg und von einem Berg herunterkam war Mitte der Neunzigerjahre ein sympathisches Hugh-Grant-Vehikel, das nichts mit The Last Bus zu tun hat. Und Land’s End ist auch nicht das Ende der Welt, auch wenn manche Leute das wohl gerne verwechseln.
Sei’s drum, ein missglückter deutscher Titel ist nicht das größte Problem, das der Film hat. Es ist das Drehbuch von Joe Ainsworth. Obwohl der Autor sich große Mühe gibt, möglichst nichts zu erklären, sondern nur zu zeigen, und die Informationen über Toms Umstände, seine Vergangenheit und das Ziel seiner Reise nur bruchstückhaft und spärlich vermittelt werden, weiß der halbwegs wache Zuschauer bereits nach kurzer Zeit alles, was es über die Geschichte zu sagen gibt. Inklusive ihres Endes.
Vorhersehbarkeit muss kein Makel sein, auch romantische Komödien folgen bekannten Erzählmustern und können dennoch unterhaltsam sein. Und stellenweise ist The Last Bus (ich bleibe jetzt mal beim prägnanteren Originaltitel) durchaus unterhaltsam, anheimelnd und sogar berührend, nur reicht das in der Summe leider nicht aus. Die Geschichte ist, um mal ein Zitat aus Der Club der toten Dichter zu bemühen, wie eine Decke, die immer zu kurz ist. Dabei hätte man das leicht ändern können, wenn man sich nur mehr Mühe gegeben hätte, Toms Leben nicht nur auf ein Ereignis zu reduzieren und der Figur mehr Tiefe und vor allem ein gewisses Mitteilungsbedürfnis zu geben.
Die Story ist eine anekdotenhafte Aneinanderreihung von kleinen Begebenheiten auf Toms Reise gen Süden, und auch das ist nicht verwerflich. Ob er auf liebeskranke Teenager, Cheerleader, Betrunkene oder Rüpel trifft, diese kleinen Begegnungen könnten einiges über Tom verraten, aber auch über die Menschen, denen er begegnet, und damit über das Land, das er durchquert. Nur tun sie das leider nicht. Nur ganz am Anfang gelingt es dem Autor, noch so etwas wie eine Miniatur zu kreieren, wenn Tom auf eine hilfsbereite Familie mit einer musicalaffinen Tochter trifft. Auch daraus hätte man noch mehr machen können, aber als Episode ist dies schon ganz gut gelungen.
Leider ist sie die Ausnahme. Alle anderen Begegnungen sind lediglich Schlaglichter, es werden keine Figuren vorgestellt, sondern nur Komparsen aufgewertet. Mal steht Tom einer muslimischen Mutter bei, die angepöbelt wird, mal singt er mit einem Betrunkenen Amazing Grace. Das ist nett, aber mehr nicht. Daraus entstehen keine kleinen Storys, man erfährt nichts über die Menschen, denen Tom begegnet, und man erfährt auch nichts über Tom selbst. Der Mann ist mit sich und seiner Aufgabe beschäftigt, und weil der Autor diese zu einem Geheimnis stilisiert hat, das sie nicht ist, darf nichts darüber verraten werden. Dadurch wird die Geschichte jedoch um ihr Herz gebracht, denn man würde diesen sympathischen Tom sehr gerne näher kennenlernen.
In kleinen Rückblenden wird die Geschichte des jüngeren Tom und seiner Frau erzählt und warum sie vor über fünfzig Jahren nach Schottland gezogen sind. Auf seiner Reise trifft er die beiden als schemenhafte Erinnerungen wieder, er versucht sogar, die damaligen Stationen erneut anzusteuern. Das alles ist gefällig, aber ebenfalls wie der Rest recht oberflächlich und konfliktarm erzählt.
Dennoch wird Tom zu einem Internetphänomen, was allerdings nur behauptet wird. Hätte er mehr über sich gesprochen, hätte man das vielleicht noch verkaufen können, so wirkt es wie eine billige Masche, um am Ende noch ein paar zusätzliche Emotionen rauszuquetschen, was der Film gar nicht nötig gehabt hätte. Die Idee ist nicht schlecht, aber die Umsetzung lässt zu wünschen übrig. Das gilt für den gesamten Film, vor allem für das Drehbuch, in Maßen aber auch für die Regie von Gillies MacKinnon.
Timothy Spalls großartige Performance ist der einzige Grund, warum man sich den Film anschauen sollte. Der Rest ist ganz nett, aber viel zu oberflächlich erzählt und am Ende sogar ein bisschen zu kitschig. Schade um die verpasste Gelegenheit.
Note: 3-