Woody Allen gehört ja leider zu jenen Regisseuren, die gecancelt wurden, obwohl keiner der gegen ihn erhobenen Vorwürfe jemals verifiziert wurde und es nie zu einer Anklage kam. Früher nannte man das Rufmord. Die Frage, ob man sich seine Filme weiterhin ansehen soll oder nicht, hat sich damit für mich erledigt. Auch wenn ich nicht sein größter Fan bin und die meisten seiner neueren Filme nicht gelungen fand (oder nicht einmal gesehen habe, weil sie mich nicht interessierten), gibt es einige ältere Produktionen, die ich mir noch einmal ansehen möchte – oder gänzlich neu entdecken will.
Anlässlich des (ziemlich kleinen) Starts seines neuesten und womöglich letzten Werks, Ein Glücksfall, den er auf Französisch gedreht hat, dachte ich, dies ist ein guter Moment für eine kleine Retrospektive. Den Anfang macht dabei ein Klassiker der Filmgeschichte, den ich tatsächlich nie vollständig gesehen habe.
Der Stadtneurotiker
Alvy Singer (Woody Allen) ist ein erfolgreicher Fernsehautor in New York, dessen Beziehungen regelmäßig in die Brüche gehen. Nach zwei gescheiterten Ehen trifft er eines Tages Annie Hall (Diane Keaton), die ähnlich neurotisch ist wie er, und verliebt sich in sie. Aber auch diese Verbindung erweist sich als chaotisch und schwierig.
Der Film markiert einen Übergang in Allens Karriere. Nach seinen Anfängen als Gagautor und Stand-up-Comedian waren seine frühen filmischen Werke vor allem von kurzen Gags, einer episodischen Struktur und wenig Dramatik geprägt. In Der Stadtneurotiker erzählt er erstmals eine Geschichte, die sich nicht an einer bereits vorhandenen Erzählung orientiert, und die, obwohl als Komödie angelegt, durchaus einige dramatische Züge trägt.
Das Besondere des Films ist allerdings seine unkonventionelle Erzählweise. Er beginnt mit Alvys Appell an den Zuschauer, in dem er diesen auf die Handlung einschwört und die vierte Wand durchbricht. In einigen Szenen werden die Gedanken der Figuren als Untertitel eingeblendet oder als Off-Kommentar wiedergegeben, es gibt eine kurze Zeichentricksequenz, Split-Screen und andere Einfälle. Insgesamt ein Sammelsurium von Ideen, die alle ungeordnet in einen Topf geworfen werden. Dadurch entsteht ein etwas improvisiertes Gesamtbild, manchmal roh, manchmal unvollkommen, aber stets interessant und einfallsreich.
Leider funktionieren nicht alle diese Einfälle und vor allem nicht alle Gags. Manche sind großartig, ungeheuer komisch und brillant – aber nur auf dem Papier. Die Inszenierung wirkt mitunter ungelenk, das Timing stimmt nicht, das Tempo ist zu langsam, was leider auf Kosten der Komik geht. Manches, wie etwa Annies halsbrecherische Autofahrt, leidet auch unter einem zu geringen Budget.
Dem Drehbuch, das Allen zusammen mit Marshall Brickman verfasst hat, merkt man deutlich Allens Herkunft als Stand-up an. Es gibt sehr viele Gags und Oneliner, von denen man annehmen kann, dass die Szene nur ihretwegen geschrieben wurde. Die Story selbst ist ein bisschen oberflächlich und handelt vor allem von der On-Off-Beziehung zwischen Alvy und Annie. Eine klare Struktur gibt es nicht, auch keine chronologische Reihenfolge. Vielmehr erzählt Alvy von seiner Beziehung, lässt auch frühere Partnerschaften Revue passieren und unternimmt Ausflüge in seine Kindheit (legendär ist die Szene, in der er seine damaligen Mitschüler erzählen lässt, was einmal aus ihnen werden wird). Die Technik, die Allen dabei anwendet, heißt in der Literatur Stream of Consciousness oder Bewusstseinsstrom, und passt sehr gut zu dieser Art von Geschichte.
Dass der Film bei uns Der Stadtneurotiker heißt, ist etwas seltsam. Obwohl es ein sehr guter und passender Titel ist, ist der Originaltitel Annie Hall viel treffender. Denn im Grunde geht es um Alvys unmögliche Liebe zu dieser Frau, die so linkisch, oberflächlich und unselbständig erscheint, als er sie kennenlernt, und die er wie ein leeres Blatt zu beschreiben beginnt. Er sagt ihr, welche Bücher sie lesen, welche Filme sie sehen soll, und ermutigt sie sogar, sich in Abendkursen fortzubilden. Ein bisschen erzieht er sie (ein Motiv, das auch in Hannah und ihre Schwester wieder auftaucht) und formt aus ihr eine eigenständige, selbstbewusste Frau – die sich dann von ihm abwendet. Die Schöpfung wendet sich gegen ihren Schöpfer, wenn man so will.
Allen versteht sich in seinen Filmen gerne als tragische Figur und hat mit Woody einen zutiefst neurotischen Charakter geschaffen, der in vielen Geschichten wiederkehrt und den wahren Allen inzwischen überdeckt. Auch hier folgt er einer Stand-up-Tradition, Witze über sein Leben zu machen und die Wahrheit gehörig auszuschmücken. Aber auch andere Themen, die ihn in späteren Filmen beschäftigen, etwa existenzielle Ängste oder der Holocaust, spielen bereits eine große Rolle. Ebenso wie die Psychoanalyse, die für ihn eine moderne Suche nach dem Sinn des Lebens ist, die aber letzten Endes wie alle anderen Methoden auch ins Leere führt. Am Ende konstatiert Allen, wie auch in Hannah und ihre Schwestern: Das Leben ist wild und chaotisch, traurig und schmerzhaft und ausschließlich durch Humor zu ertragen sowie durch die liebevolle Nähe und Verbundenheit mit anderen Menschen – sogar wenn diese uns unendlich nerven.
Note: 2-