Neulich bin ich wieder einmal die Liste der Filme durchgegangen, die demnächst bei Prime Video verschwinden werden – und von denen ich teilweise nicht einmal wusste, dass sie sich überhaupt im Angebot des Streamingdienstes befinden. Immer wieder entdeckt man dabei einen Klassiker der Filmgeschichte, den man schon lange mal wiedersehen wollte oder den man womöglich noch gar nicht kennt, und hin und wieder sogar einen alten Streifen, von dem man noch nie zuvor gehört hatte. So steht diese Woche – auch mangels passender Osterfilme – ganz im Zeichen der Vergangenheit mit zwei Western und einem Monumentalschinken.
Weites Land
Cineasten ist er selbstverständlich ein Begriff, und wer sich Mark G.s Oscar-Trivia anschaut, wird ebenfalls mehrfach über seinen Namen stolpern: William Wyler ist der Regisseur mit den meisten Oscarnominierungen (zwölf), dessen Filme die meisten dieser Preise einheimsen konnten (vierzig). Der gebürtige Deutsch-Schweizer gilt darüber hinaus auch als einer der vielseitigsten Regisseure der Filmgeschichte, der in jedem Genre zu Hause war und dort neue Maßstäbe gesetzt hat.
Jezebel – Die boshafte Lady und Die kleinen Füchse waren psychologisch stimmige Melodramen mit einer großartigen Bette Davis in den Hauptrollen. Mrs. Miniver ist einer der besten Filme über Dünkirchen, geschildert aus der Sicht einer britischen Familie. Historiendramen wie Die Erbin oder Ben Hur, der für Wyler wie eine Rückkehr zu seinen Wurzeln gewesen sein musste, da er 1925 bei einer früheren Verfilmung als Regieassistent gearbeitet hat, gehören ebenso zu seinem Oeuvre wie anspruchsvolle Dramen (Die besten Jahre unseres Lebens), abgründige Thriller (An einem Tag wie jeder andere), Musicals (Funny Girl) oder leichtfüßige Komödien wie Ein Herz und eine Krone oder Wie klaut man eine Million? Es ist erstaunlich, wie viele berühmte Klassiker der Filmgeschichte auf sein Konto gehen.
Angefangen hat er in der Stummfilmzeit, gefördert vom Cousin seiner Mutter, dem Universal-Gründer Carl Lämmle. Mitte der Dreißigerjahre, als Wyler fest etabliert war, wandte er sich verstärkt den Literaturverfilmungen zu und erreichte mit Sturmhöhe den Beginn seiner Hochzeit. Mit Weites Land kehrte er einige Jahre später inhaltlich zum Beginn seiner Karriere zurück, die mit einer Reihe von (stummen) Kurzwestern begonnen hatte, und er inszenierte einen Western, der heute zu den Klassikern des Genres zählt. Ich habe mir nun die restaurierte Fassung auf Prime Video angesehen.
Weites Land
Einige Jahre nach dem US-Bürgerkrieg reist der ehemalige Schiffskapitän James McKay (Gregory Peck), der aus einer reichen Reederfamilie in Baltimore stammt, in den amerikanischen Südwesten, um dort seine Verlobte zu heiraten. Patricia (Carroll Baker) ist die verwöhnte Tochter des reichen Ranchers Major Henry Terrill (Charles Bickford), die sich Hals über Kopf in den gutaussenden Mann verliebt hat, nun aber Seiten an ihm entdeckt, die ihr nicht gefallen: Weder setzt er sich zur Wehr, als sie beide von den Rüpeln des Hannasey-Clans belästigt werden, noch will er einen wilden Hengst reiten, auf dem jeder Neuankömmling auf der Ranch der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Zwischen den Terrills und den Hannasey tobt seit Jahrzehnten ein erbitterter Streit, der langsam auf einen Höhepunkt zusteuert. Grund ist die Ranch der Lehrerin Julie (Jean Simmons), zu der ein Fluss gehört, den beide Rancher als Tränke benutzen. Beide wollen das Stück Land um jeden Preis erwerben und damit ihrem Rivalen den Todesstoß versetzen
Die Geschichte basiert auf einem Fortsetzungsroman von Donald Hamilton, der vor allem mit reißerischen Spionage- und Kriminalromanen bekannt geworden ist, aber auch einige Western geschrieben hat. An der Adaption arbeiteten angeblich sieben Autoren, von denen schließlich vier genannt wurden: James A. Webb, Sy Bartlett, Robert Wilder und Jessamyn West. Doch als die Dreharbeiten begannen, war das Werk noch nicht zur Zufriedenheit der Beteiligten beendet. Es gab nahezu jeden Abend neue Szenen für die Schauspieler, die diese in der Nacht zu lernen hatten, um am Morgen zu erfahren, dass weitere Änderungen vorgenommen worden waren.
Die Dreharbeiten gestalteten sich schwierig. Wyler hatte eine despotische Ader und war ein Perfektionist, der aufgrund seiner Angewohnheit, jede Einstellung unzählige Male zu drehen, 90-Take-Wyler genannt wurde. Der Spitzname stammte angeblich von Merle Oberon, die er mit Infame Lügen zum Star gemacht und an den Rande eines Nervenzusammenbruchs getrieben hatte, bevor er sie in Sturmhöhe so oft durch einen Sturm schickte, dass sie anschließend im Krankenhaus landete. Auch Carroll Baker war nach den Dreharbeiten von Weites Land angeblich traumatisiert, und Jean Simmons hat sich jahrelang geweigert, über den Film zu reden. Angeblich bestand Wylers einzige Regieanweisung in einem „Make it better!“ Nicht gerade konstruktiv.
Aber Wyler holte auf diese Weise nicht nur Meisterleistungen aus seinen Schauspielern heraus, sondern schaffte es auch, die psychologischen Feinheiten der Figuren herauszuarbeiten und sie konsequent in der Dramaturgie des Films einzubetten. Daher spürt man in Weites Land auch so gut wie nichts von den Schwierigkeiten der Drehbucharbeit oder Schauspielführung, allenfalls in manchen Szenen meint man, eine gewisse Unsicherheit bei den Schauspielern wahrzunehmen, als wüssten sie gerade nicht, was sie eigentlich fühlen sollen.
Weites Land ist kein klassischer Western, in dem es um Cowboys und Indianer oder Pioniere und Kavalleristen geht, sondern eher ein Psychogramm der amerikanischen Seele. Er greift ein klassisches Thema, die Feindschaft zwischen zwei Nachbarn, auf und lässt einen unbeteiligten Fremden zwischen die Fronten geraten. James McKay ist ein vielschichtiger, interessanter Charakter, einerseits kultiviert und gebildet, als ehemaliger Seemann aber auch mit den rauen Sitten dieser Welt vertraut. Mit der Gelassenheit eines Philosophen lässt er sich die derben Scherze der Cowboys gefallen, ohne ihnen Paroli zu bieten. McKay ist kein Pazifist, er ist durchaus bereit zu kämpfen und für sich einzustehen, aber er ist kein Angeber, und durch seine zurückhaltende Art entlarvt er den Machismo seiner Geschlechtsgenossen als oberflächliche Angeberei und lässt sie in Leere laufen.
Bei Patricia kommt das nicht gut an, sie hat sich in ein bestimmtes Bild von McKay verliebt, das sie nun bedroht sieht. Obwohl eigentlich gutherzig, übernimmt sie bereitwillig die Denkmuster ihres Vaters und ihrer Umwelt, ohne diese zu hinterfragen. Dass ihr Verlobter von ihrem Vater und dem Vorarbeiter Steve Leech (Charlton Heston), der heimlich in Patricia verliebt ist, als Feigling betrachtet wird, schmälert ihre Zuneigung zu ihm. Anstatt ihn besser kennenzulernen, seinen Charakter zu ergründen und ihn für das zu lieben, was er wirklich ist, will sie lieber einen Mann mit dem richtigen Image – und im Grunde eine Kopie ihres Vaters. Im Gegensatz dazu versteht Julie viel besser, wer McKay eigentlich ist und welche Prinzipien seinem Handeln zugrunde liegen, und so nimmt das Unvermeidbare seinen Lauf.
Wie vielschichtig McKays Charakter ist, wird vor allem an einem Detail deutlich: Er schenkt dem Major bei seiner Ankunft zwei Duellpistolen, die einst seinem Vater gehört haben, der ständig wegen seiner Ehre mit anderen gestritten hat und dadurch ums Leben gekommen ist. McKay will auf keinen Fall so sein – und ist am Ende dennoch zu einem Duell gezwungen, wenn auch aus anderen Gründen.
McKay ist ein Mann, der um seinen Wert weiß und genug Selbstvertrauen besitzt, um ihn nicht öffentlich unter Beweis stellen zu müssen. Das heißt aber nicht, dass er sich nicht auch beweisen will. So reitet er heimlich den wilden Hengst zu und prügelt sich mit Leech, wenn keiner zusieht, aber er will damit nicht angeben. Und Wyler unterläuft die Erwartungshaltung des Zuschauers, indem es nie zu einem Pay-off kommt, zu einer Szene, in der seine Umwelt erkennt, was in ihm steckt.
Es dauert jedoch eine Weile, bis man mit diesem McKay warm wird, aber je mehr sich die Feindschaft zwischen den Clans zuspitzt und auf ein blutiges Ende zusteuert, desto mehr weiß man die ruhige Vernunft des Helden zu schätzen. McKay hält die alttestamentarische Auge-für-Auge-Mentalität der Patriarchen für moralisch falsch und propagiert eine diplomatische, auf Vernunft und Pragmatismus basierende Lösung. Wovon die revolverschwingenden Alpha-Männchen jedoch nichts wissen wollen.
So kommt es im packenden Showdown unweigerlich zum klassischen Shoot-Out und einem Ende, das beinahe einer griechischen Tragödie würdig wäre. Vor allem Burl Ives als Hannasey-Clanchef kann hier glänzen, weshalb er für seine Rolle auch mit dem Oscar belohnt wurde. Interessanterweise hat Wyler die finalen Szenen nach dem Showdown gar nicht selbst gedreht, weil er bereits am Set von Ben Hur in Rom war. Die Schauspieler dürften erleichtert gewesen sein …
Fordert große Kunst manchmal einen großen Preis, oder muss ein Regisseur streng und despotisch sein, um ein Meisterwerk zu schaffen? Nicht notwendigerweise, wie zahlreiche Gegenbeispiele bezeugen, aber Wyler konnte vermutlich nicht aus seiner Haut, und er war mächtig genug, um mit seiner Arbeitsweise durchzukommen, auch wenn es beispielsweise seine Freundschaft zu Gregory Peck nachhaltig beschädigte.
Weites Land ist eine feinsinnige, geradezu moderne Charakterstudie, hat eine packende Story und sogar eine faszinierende Liebesgeschichte. Wyler weiß aber auch, was er dem Genre-Publikum schuldig ist, und er inszeniert die Geschichte, wie man es von einem Western erwartet: Die großartigen Landschaftspanoramen von Kameramann Franz Planer kommen dabei seiner Vorliebe für Totale entgegen und wirken in der restaurierten Fassung so frisch wie vor fast siebzig Jahren. Typisch ist auch der Westernsound des Scores von Jerome Moross, den Wyler so sehr ablehnte, dass er ihn ersetzen lassen wollte, bis Peck ihn eines Besseren belehrte. All das trug vermutlich zum Erfolg des Films bei, der mit knapp zehn Millionen Dollar Einspielergebnis in den USA in den Top 20 des Jahres 1958 landete.
Es gibt nur wenig, was man an dem Film tatsächlich kritisieren kann, und zum Teil ist dies unseren veränderten Sehgewohnheiten geschuldet: Insgesamt ist das Tempo etwas zu langsam, und der Film mit seinen knapp drei Stunden viel zu lang. Auch wird der Schurke Buck (Chuck Conners) ein wenig zu klischeehaft geschildert, und die Figur des mexikanischen Farmarbeiters Ramón (Alfonso Bedoya) würde man heute als rassistisch gezeichnet betrachten.
Wer ein Faible für Western hat und diesen wunderbaren Klassiker noch nicht kennt, sollte ihm unbedingt eine Chance geben. Der Film ist moderner, als man denkt.
Note: 2+