Poor Things

Das ist ja mal schräg, dachte ich, als ich den Trailer zum ersten Mal sah. Aber nicht auf die gute Art. Dabei mag ich schräg. Brazil gehört zu meinen absoluten Lieblingsfilmen, Delicatessen fand ich großartig (zumindest damals), und ich konnte selbst Der Gefallen, die Uhr und der sehr große Fisch noch etwas abgewinnen. Alles schräge, aber liebeswerte Filme. Und ganz anders als die Produktionen, die man heute zu sehen bekommt und die oftmals wirklich ungewöhnlich und andersartig sind, aber selten liebenswert.

Poor Things hat vergangenen Sonntag vier Trophäen geholt, und sie waren alle mehr oder weniger verdient, auch wenn man ruhig Barbie einen Trostpreis in der Form eines Oscars für die besten Kostüme oder die beste Ausstattung hätte geben können. Immerhin war Barbie nicht nur der erfolgreichere, sondern auch der bessere und klügere Film, aber den Akademiemitgliedern am Ende vielleicht nicht radikal oder schräg genug.

Doch zurück zum Trailer, der mir überhaupt nicht gefallen hat, weshalb ich auch keine Lust hatte, den Film anzuschauen. Doch da er beim Publikum toll ankommt und für „einen solchen Film“ sogar recht erfolgreich ist, siegte am Ende die Neugier und ein bisschen auch das Pflichtgefühl, und ich war kürzlich im Kino. Die Vorführung war ganz gut besucht und zum Teil genau so seltsam, wie das, was auf der Leinwand zu sehen war: Ungefähr in der Mitte des Films gab es weiter hinten einen kurzen, geflüsterten Disput, woraufhin einige Leute das Kino verließen. Und neben mir saß eine Frau, die bei jeder passenden oder auch bei vielen unpassenden Stellen laut lachte. Als Einzige.

Poor Things

Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe) ist begnadeter Arzt und Wissenschaftler, dessen Gesicht von groben Narben furchtbar entstellt ist, weil er bereits als Kind von seinem Vater für medizinische Experimente missbraucht wurde. Er wählt unter seinen Studenten den beflissenen Max MacCandles (Ramy Youssef) aus, ihm als Assistent bei einem Experiment zu dienen: Baxter hat den Leichnam einer hochschwangeren Selbstmörderin wiederbelebt und ihm das Gehirn des ungeborenen Babys eingepflanzt. Entsprechend befindet sich Bella (Emma Stone) in der Entwicklungsphase eines Kleinkinds im Körper einer erwachsenen Frau. Max verfällt unmittelbar ihrer Schönheit und will sie heiraten, doch Bella, die gerade ihre Sexualität entdeckt hat, brennt mit dem zwielichtigen Anwalt Wedderburn (Mark Ruffalo) durch.

Auf den ersten Blick ist dies natürlich eine Frankenstein-Geschichte. Auf den zweiten auch, ergänzt um eine feministische Erweckungsgeschichte, quasi ein grotesker Bildungsroman auf Speed. Angesiedelt in einem fiktiven viktorianischen Europa in den späten 1880er Jahren, das ein quietschbunter Gemischtwarenladen an Ideen und Stilen ist, in dem absolut nichts zusammenpasst, aber in der Summe wenigstens nett ausschaut. Und das Setdesign und die bizarren Kostüme sind vermutlich noch das Beste an dem Film.

Das Drehbuch von Tony McNamara basiert auf dem Roman von Alasdair Gray, der vor über dreißig Jahren erschien ist und ähnlich wie Mary Shellys Frankenstein auf einer Sammlung von Aufzeichnungen, Briefen und Tagebucheinträgen basiert. Die Story von Bella ist nur ein Teil davon und wird in einem anderen, von Bella selbst verfasstem Teil als Fiktion entlarvt, als ein Hirngespinst ihres Gatten auf dem Totenbett. Aber im Film geht man einen Schritt weiter und nimmt alles für bare Münze.

Es gibt viele Anklänge an Frankenstein, etwa die Art und Weise, wie Baxter Bella ins Leben zurückholt, wobei seine medizinischen Arbeiten eher an einen anderen Klassiker der Literaturgeschichte erinnern, nämlich an Die Insel des Dr. Moreau – ein weiteres Beispiel eines Genres, das in der Literatur Herausgeberfiktion genannt, in der Filmwelt dagegen als Found Footage bezeichnet wird. Diese Vorlage umzusetzen, dürfte eine nicht geringe Anstrengung erfordert haben.

Auch über die Story hinaus finden sich Hinweise auf Mary Shelley, deren Mädchenname Godwin war und deren Mutter, Mary Woolstonecraft, die Mit-Begründerin der Frauenbewegung und des Feminismus, war, während ihr Vater William Godwin, den philosophischen Anarchismus begründete. Bei genauerer Betrachtung finden sich einige seiner Lehren in Bellas Gedankenwelt wieder.

An und für sich erzählt Poor Things eine solide, packende Geschichte. Bella ist ein medizinisches und soziologisches Experiment, eine Frau, geschaffen von einem skrupellosen Wissenschaftler, für den Erkenntnisgewinn wichtiger ist als Moral, worin er sowohl Frankenstein als auch Moreau ähnelt. Aber Baxter verfügt auch über Empathie, und weil er selbst das Produkt gefährlicher Experimente ist, die seinen Körper verstümmelten, kann man ihm nicht einmal böse sein.

Im Kern geht es um eine Frau, die zum Objekt und Spielball dominierender Männer wird. Ihre einzige Waffe ist ihr Körper, ihre Schönheit, ihre Sexualität, und sie setzt alles mit ähnlicher Skrupellosigkeit ein wie die Männer ihren Intellekt und ihre Macht. Bellas Entwicklung zu beobachten ist faszinierend, beginnend mit dem kleinkindlichen Gebrabbel, den ungelenken Bewegungen und den jähen Stimmungsschwankungen, sie ist ganz Gefühl, Impuls und Trieb, ungefiltert, ungehemmt durch Erziehung und soziale Normen.

Auch später überrascht Bella durch ihre Neigung, alles auszusprechen, was ihr gerade durch den Kopf schießt, sie nimmt keine Rücksicht auf Manieren, Anstand oder Sitten, sie redet offen über ihre sexuellen Bedürfnisse und kennt weder Scham, Scheu noch Angst. Oder ein Korsett. Insofern ist sie ein radikaler Gegenentwurf zum viktorianischen Frauenideal und ganz und gar ein Kind unserer Zeit, in der alles, vom Rollenverhalten bis hin zum Geschlecht, auf den Prüfstand gestellt und als soziales Konstrukt entlarvt wird. Das alles wird gut erzählt und ist genau das, was man erwartet hat.

Eine der großen Enttäuschungen des Films ist seine Vorhersehbarkeit, eine seiner größten Schwächen sein Mangel an echten Konflikten. Schon von den ersten Minuten an weiß man, wie Bellas Entwicklung verlaufen wird, dass sie sich von den Männern befreien, Autonomie und einen freien Willen erkämpfen muss. Dass sie dies alles ohne nennenswerten Widerstand erreicht, macht die Geschichte leider ziemlich langweilig.

Hinzukommt, dass man mit den Figuren nicht warm werden will. Man kann anfangs zwar über Bella lachen, später ihre naive Radikalität bewundern, aber sympathisch ist sie nicht. Das gilt auch für die Männer in der Geschichte, die allesamt zu der Sorte gehören, die ihre Frauen, wie Kate Atkinson einmal sagte, am liebsten in den Schrank sperren würden, um sie bei Bedarf herausholen zu können.

Was bleibt, ist der Look, der zwar hübsch anzuschauen ist, aber leider auch ziemlich überladen. Außerdem passt bei diesem wilden Stilmix nichts zusammen, die Stuckarbeiten muten expressionistisch an, dazu gesellt sich ein wuchernder Jugendstil und bisweilen ein Anklang von Brutalismus, woraus sich eine eigenwillige, aber auch beunruhigende Melange ergibt, die vermutlich Absicht ist, weil sie den radikalen Ansatz der Erzählweise unterstützt, wozu auch der anfangs exzessive Einsatz des Fischaugenobjektivs zählt. In der Summe macht es den Film, nicht zuletzt auch wegen seiner extremen Künstlichkeit, vor allem in seinem ersten Drittel nahezu unanschaubar. Wie gesagt, es passt zu Bella und ihrer Entwicklung, ist aber auch verdammt anstrengend.

Erst ab dem zweiten Drittel gerät der Film in ruhigere Fahrwasser, und mit der Zeit setzt sogar ein gewisser Gewöhnungseffekt ein. Insgesamt ist er auch mindestens dreißig bis vierzig Minuten zu lang, vor allem die letzte Episode, in der Bella auf „ihren“ Ehemann (also den Mann der Selbstmörderin, deren Körper sie besitzt) trifft, stellt die Nerven des Zuschauers auf die Probe und ist im Grunde völlig überflüssig.

Alles in allem ist Poor Things eine anstrengende, sehr vorhersehbare feministische Entwicklungsgeschichte, ein überproduzierter, mit vielen schlechten Regieeinfällen und einer grauenvollen Musik ausgestatteter Film, der einen aber hin und wieder zum Schmunzeln bringt und vor allem von seiner unerschrockenen Hauptdarstellerin lebt.

Note: 3-

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.