All of Us Strangers

Als ich erstmals von diesem Film hörte, war ich geschockt. Seit Jahren versuche ich, eine ähnliche Geschichte bei hiesigen Produzenten und Verleihern unterzubringen, eine Romanadaption, die leider auf einer wenig erfolgreichen Vorlage beruht und aus diesem Grund allseits abgelehnt wird, obwohl jeder dem Stoff eine hohe Kommerzialität attestiert. Letzten Endes habe ich nach diesen Erfahrungen auch beschlossen, mich weitgehend aus der Branche zurückzuziehen.

Aber hier geht es nicht um mich, sondern um den Film, bei dem ich nicht wusste, ob ich ihn anschauen sollte. Erst als ich erfuhr, dass die Story trotz einiger Parallelen gänzlich anders ist und vor allem ein anderes Genre bedient, wurde ich neugierig und bin ins Kino gegangen. Die Vorführung war schwierig, die Leinwand hatte Löcher, was für irritierende Punkte im Bild gesorgt hat, und es war eine Schülergruppe im Saal, möglicherweise eine Englischklasse, die unangenehm auffiel. Vor allem weil buchstäblich alle zwei Minuten jemand auf die Toilette musste.

All of Us Strangers

Der Drehbuchautor Adam (Andrew Scott) lebt in einem neuen Hochhauskomplex, der nahezu leer steht. Lediglich eine weitere Wohnung, mehrere Stockwerke tiefer, scheint noch bewohnt zu sein. Nach einem Feuer-Fehlalarm steht eines Abends der Nachbar Harry (Paul Mescal) vor der Tür, der Adam betrunken Avancen macht. Adam ist nicht uninteressiert, lehnt aber ab. Weil er beim Schreiben eines Drehbuchs über seine Eltern und Kindheit nicht weiterkommt, fährt er zu seinem ehemaligen Elternhaus außerhalb der Stadt – wo er plötzlich auf die Geister seiner Eltern (Claire Foy und Jamie Bell) trifft, die ums Leben kamen, als er zwölf war.

Die Begegnung mit den Geistern seiner Eltern war die Szene, auf die ich, wegen der erwähnten Parallelen, am neugierigsten war. Sie geschieht hier mit einer Beiläufigkeit, die mich, ehrlich gesagt, befremdet hat. Das Wunderbare, Magische, vor allem aber die Emotionalität der Szene werden nahezu komplett ausgeblendet, wodurch man eher den Eindruck gewinnt, als wüsste Adam, dass sie nicht real sind, sondern lediglich seiner Imagination entspringen.

Regisseur und Autor Andrew Haigh, der hier sehr frei den japanischen Roman Sommer mit Fremden von Taichi Yamada adaptiert, hat für seine Geschichte einen anderen Ansatz gewählt als eine klassische Geistergeschichte. Im Mittelpunkt steht Adams Isolation und Einsamkeit, die durch seine Wohnverhältnisse perfekt auf den Punkt gebracht wird. Von seinem Appartement hoch über der Stadt ist er buchstäblich allem entrückt, gewissermaßen sitzt er in seinem Elfenbeinturm, aber er ist auch immer allein. Seine Freunde sind aus London fortgezogen, viele haben Familien, und die Schwulenszene scheint nicht seine Welt zu sein.

Auch visuell wird seine Einsamkeit beeindruckend umgesetzt, sieht man fast nur Adam, selbst wenn er mit dem Zug unterwegs ist oder durch die Straßen geht, sind alle anderen Menschen meist nur Schemen und Schatten. Auch ein Kind, das verloren am Fenster steht, ist ein immer wiederkehrendes Motiv. Adam war selbst solch ein Kind, das sich nach einer anderen Welt gesehnt hat, in dem es sich nicht wie ein Außenseiter fühlt, und in der Begegnung mit seinen Eltern, die nun ungefähr in seinem Alter sind, arbeitet er diese Vergangenheit, seine Ängste und Enttäuschungen auf.

Adam erzählt im Gespräch mit seiner Mutter und seinem Vater von seiner sexuellen Orientierung, seinen Kämpfen und Ängsten, er öffnet sich, was er als Kind nicht konnte, und lässt sie teilhaben an seinen Gedanken, berichtet aber auch von dem Mobbing, dem er als Kind ausgesetzt war. Und seine Eltern reagieren verständnis- und liebevoll, genauso wie er es sich gewünscht hätte.

Auf diese Weise kann Adam Abschied nehmen, sich mit seiner Vergangenheit versöhnen und lernen, sich anderen mehr zu öffnen. Das alles wird sehr schön, aber auch unspektakulär geschildert. Lange Einstellungen dominieren das Bild, das Tempo ist langsam, was zu vereinzelten Längen führt, die Dialoge sind gut, aber nicht außergewöhnlich. Insgesamt fehlt es an Dramatik und Konflikten.

Haigh hat auch deshalb die Eltern-Sohn-Geschichte erweitert um eine langsam aufkeimende Liebesbeziehung zwischen Adam und Harry, die ebenfalls von langen Gesprächen dominiert wird. Die Chemie zwischen den beiden Darstellern ist großartig, und diese zarte Lovestory gehört sicherlich zu den besten der letzten Jahre. In Kombination mit Adams persönlicher Wandlung und emotionaler Öffnung werden hier die schönsten Erwartungen geweckt, bis das Ende einen mit einem überraschenden Twist schockiert.

All of Us Strangers ist ein tieftrauriger, melodramatischer Film über Verlust, Schmerz und Einsamkeit, in seinen dunkelsten Momenten kaum zu ertragen, in seinen besten von unerwarteter Heiterkeit, ein tapferes Plädoyer für die Liebe im Angesicht von Tod und Vergänglichkeit, das uns die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens vor Augen führt und gleichzeitig seine Kostbarkeit.

Note: 2-

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.