Der intensive Trailer und das – für einen US-Film – beinahe exotisch zu nennende Setting eines deutschen Philharmonie-Orchesters haben dafür gesorgt, dass der Film auf meiner Heiß-auf-Liste des Jahres landete. Ich wollte ihn dann auch vor oder nach der Oscarverleihung vergangenes Jahr sehen, habe es aber irgendwie nicht geschafft und ihn erst jetzt auf Wow nachholen können.
Die Laufzeit von zweieinhalb Stunden hat mich zunächst etwas abgeschreckt, denn im Augenblick gibt es so viele Filme zu sehen und nachzuholen, dass ich kaum mit den Sichtungen hinterherkomme. Bei kürzeren Filmen kann man schon mal ein Double-Feature einplanen, aber bei den meisten heutigen Produktionen, die selten unter zwei Stunden Laufzeit haben, ist das völlig unmöglich.
Tár
Lydia Tár (Cate Blanchett) ist die erste Chefdirigentin eines großen deutschen Orchesters in Berlin und ein weltweiter Superstar der klassischen Musikszene. In den vergangenen Jahren hat sie sämtliche Symphonien Mahlers eingespielt und will diesen Zyklus nun mit der Fünften beenden. Doch die Proben gestalten sich schwierig und werden überschattet vom Selbstmord ihrer ehemaligen Schülerin Krista, die Vorwürfe des sexuellen Machtmissbrauchs gegenüber Tár erhebt. Darunter leidet auch ihre Ehe mit der Konzertmeisterin Sharon (Nina Hoss), und der Druck auf Tár wird mit der Zeit noch stärker.
Autor und Regisseur Todd Field hat bereits mit seinem ersten Langfilm In the Bedroom für Furore gesorgt, und auch seine zweite Arbeit Little Children war oscarnominiert. Darauf folgte eine fünfzehnjährige Schaffenspause, doch mit Tár konnte er mühelos an seine früheren Kritikererfolge anknüpfen. Seinen Erstling habe ich nicht gesehen, von Little Children war ich enttäuscht, weil er zu emotionslos inszeniert war. Bei der heimlichen Affäre ging es mehr um das Ankämpfen gegen Konventionen und die alltägliche Leere als um Leidenschaft, und ein Stück weit hat mich auch Tár daran erinnert. Interessant ist, dass es in beiden Filmen auch um sexuellen Missbrauch geht und inwieweit allein die Vorwürfe schon einen Menschen vernichten können. Dabei wurde Little Children zehn Jahre vor der #MeToo-Bewegung gedreht.
Auf den ersten Blick könnte man meinen, Field sei daran gelegen zu zeigen, dass es auch Frauen gibt, die ihre Machtpositionen ausnutzen, um Menschen ihrer Umgebung sexuell gefügig zu machen, aber das wäre ein zu billiger Vorwurf. Macht verändert Menschen, egal welches Geschlecht sie haben, und mindert ihre Empathie. Der Zuschauer lernt Lydia Tár zu Beginn auf dem Höhepunkt ihres Schaffens kennen, erfährt von ihren außerordentlichen Leistungen (so ist sie beispielsweise ein EGOT) und erlebt sie als intellektuell scharfsinnige, enorm gebildete und überaus eloquente Persönlichkeit. Und als Dirigentin ist sie ohnehin Taktgeberin einer kleinen Organisation, deren Leitung Strenge und Disziplin erfordert. Es ist immer noch zumeist eine Männerdomäne.
In erster Linie ist es aber das Setting, das einen fasziniert. Die Musikindustrie kommt zwar häufiger in Film und Fernsehen vor, aber dann geht es meistens um einzelne Musikerbiografien oder die Geburt neuer Stilrichtungen, und gefühlt handelt jede zweite Produktion ohnehin von Rappern. Die Klassik-Musikszene ist selten der Hintergrund einer Geschichte, ausgenommen die launige Serie Mozart in the Jungle über einen unkonventionellen Dirigenten in New York, und Maestro, der sich in diesem Jahr im Oscarrennen befindet.
Die Story spielt größtenteils in Deutschland, wo man klassische Musik sehr ernst nimmt, und Blanchett hat eigens für diese Rolle einige deutsche Sätze einstudiert, die sie mit charmantem und überraschend schwach ausgeprägtem Akzent vorträgt. Allein dafür lohnt sich die OV-Fassung bereits. Nach der kurzen Vorstellung der Hauptfigur wirft Field den Zuschauer mitten hinein in die Welt der Lydia Tár, die vor einer wichtigen Aufführung steht, gerade ihre Autobiografie veröffentlicht und darüber hinaus eine Eigenkomposition abschließen will, an der sie (schon zu lange) arbeitet. Sie steht also bereits unter Druck, als sie mit den Anschuldigungen ihrer ehemaligen Schülerin Krista konfrontiert wird, die sich gerade umgebracht hat.
Man könnte den Film als eine Variante der vielen #MeToo-Erzählungen begreifen, immerhin geht es um Vorwürfe, die erhoben werden, um Vertuschungsaktionen der Beschuldigten, um weitere Vorwürfe, viele Gerüchte und Machtspielchen. Und am Ende um den Sturz der Hauptfigur, um die Demontage eines Superstars. Aber so einfach ist es nicht, und Field will keine simple Geschichte über Machtmissbrauch und Hybris erzählen.
Relativ am Anfang gibt es eine längere und außerordentlich gute Szene, in der Tár eine Gastvorlesung in New York absolviert und einen nervösen Schüler herunterputzt, weil dieser für sich persönlich Bach gecancelt hat, mit dem er als Farbiger und Pansexueller nichts anfangen kann. Später taucht ein Video dieser Veranstaltung auf, das so geschnitten wurde, dass Társ Aussagen komplett aus dem Kontext gerissen werden und sie in einem schlechten Licht dastehen lassen. Bedeutet das, dass auch alle anderen Anschuldigungen aus der Luft gegriffen sind? Hat Tár ihre Schülerinnen am Ende gar nicht missbraucht?
Field bleibt eine endgültige Antwort schuldig und ergeht sich stattdessen in eindeutigen Andeutungen. Man kann zwar davon ausgehen, dass es eine sexuelle Beziehung zwischen Tár und Krista gegeben hat, aber sicher ist selbst das nicht. Alles bleibt im Vagen, Informationen werden versteckt, aber die wichtigsten Aussagen dazu fallen eher beiläufig in Nebensätzen. Konzentriert man sich als Zuschauer auf das, was man weiß, weil man es gesehen hat, hat Tár immerhin Kristas Karriere zerstört, indem sie die junge Frau, die in einem von der berühmten Dirigentin betreuten Stipendiatenprogramm gefördert wurde, systematisch bei jedem potentiellen Arbeitgeber angeschwärzt hat. Nach deren Selbstmord löscht Tár sämtliche E-Mails, die damit zusammenhängen. Man kann ihr damit immerhin Machtmissbrauch und Vertuschung vorwerfen.
Gegen Ende der Geschichte, wenn die Vorwürfe längst hochkochen, setzt Tár sich für eine junge Cellistin (Sophie Kauer) ein, nimmt sie sogar mit auf eine Geschäftsreise nach New York. Man spürt ihr Interesse an der jungen Frau, doch diese entzieht sich ihr, und Tár akzeptiert diese Zurückweisung. Auch hier ist nichts eindeutig, es gibt keinen sexuellen Annäherungsversuch, lediglich eine Essenseinladung, vielleicht ist Tár aber inzwischen auch einfach nur vorsichtig. Man weiß es nicht und rätselt.
Wenn es Verhaltensmuster gibt, erfährt man davon vor allem durch die Reaktionen der anderen. Társ Assistentin (Noémi Merlant) deutet in einer Szene möglicherweise eine Beziehung an, die sowohl sie als auch Krista und Tár betrifft, und kündigt Hals über Kopf, als sie eine ihr in Aussicht gestellte Beförderung nicht erhält. Am aufschlussreichsten ist Sharons Reaktion auf die Vorwürfe, die zu einer sofortigen Trennung zwischen den Frauen führt. Auch dies ist typisch für den Film: lange Zeit passiert nichts, bis sich die Ereignisse dann überschlagen und man sich fragt, ob man etwas verpasst hat.
Nicht nur bleibt Field eine genaue Antwort schuldig, sondern auch eine dramatische Aufarbeitung der Ereignisse. Er folgt Tár streng durch ihren Alltag, sie reagiert zwar auf die Anschuldigungen und weist diese zurück, aber es kommt nie zu einem Gespräch darüber, zu einer wie auch immer gearteten Auseinandersetzung damit. Dabei würde es sich anbieten, sie mit Sharon darüber reden zu lassen, aber auch das bleibt aus. Diese Beziehung ist, wie alles andere auch, vage und distanziert. Einmal kommt es zu physischer Nähe, sogar zu einem Kuss, aber ansonsten könnten die beiden auch Mitbewohnerinnen sein.
Kurz gesagt: Das Problem ist die distanzierte, kühle Inszenierung, die sich auch in der grau-blauen Farbgebung widerspiegelt. Field lässt seine Kamera stets einen großen Abstand zu den Figuren halten (wenn ich mich nicht irre, gibt es keine einzige Großaufnahme im gesamten Film), was zwar die Distanz, die Tár zu allen Menschen aufgebaut hat, unterstreicht, es aber schwer macht, sie zu verstehen, insbesondere wenn sie sich auch auf der Dialogebene verweigert. Dadurch bekommt der Film nicht nur einen fast schon dokumentarischen Charakter, es führt auch zu weiteren Problemen: Manche Details sind so klein, dass man sie nicht erkennen kann. Etwa die Widmung in einem geschenkten Buch, die Tár wütend macht, oder die Kritzeleien ihrer Assistentin, die einen ähnlichen Effekt auf sie haben. Auch sonst wird so beiläufig erzählt, dass man in jeder Szene höllisch aufpassen muss, um nichts zu verpassen.
Weil so wenig reflektiert und emotional aufgearbeitet wird, schleicht sich nach der ersten Hälfte eine gewisse Ermüdung ein. Als Zuschauer wünscht man sich nicht nur eine bestechende Klarheit in der visuellen Ausgestaltung, sondern auch im Inhalt. Wo mutigere Regisseure das Skalpell angesetzt hätten, begnügt sich Field mit dem verzerrten Bild eines Ultraschallgeräts. Zudem scheinen sich Szenen und Inhalte zu wiederholen, die Story tritt eine Weile auf der Stelle, um dann gegen Ende plötzlich in eine Reihe bizarrer Ereignisse zu münden. Field scheint hier nicht nur seine Hauptfigur überrumpeln zu wollen, sondern auch den Zuschauer.
Tár ist das überaus faszinierende Psychogramm eines Machtmenschen. Dass es sich um eine Frau handelt, spielt keine Rolle, denn Field macht diesen Umstand selbst nicht zum Thema. Im Gegenteil, einmal bezeichnet sich Tár sogar selbst als Mann (genauer als „Vater“ ihrer Tochter). Es geht aber nicht um eine Frau in einer Männerdomäne, die männliches Verhalten imitieren muss, um sich Respekt zu verschaffen. Aber worum es genau geht, bleibt vage. Handelt der Film von Machtmissbrauch und Manipulation? Ja, durchaus, aber irgendwie auch wieder nicht, da das Thema nicht dramatisiert wird.
In einer Szene wird Schopenhauer zitiert, der die Geräuschempfindlichkeit eines Menschen als Gradmesser seiner Intelligenz festlegt. Scheitert Tár letzten Endes an ihrem überragenden Intellekt? An ihrer Hybris, besser, klüger und überlegener zu sein als alle anderen? Immer wieder wird Tár von verstörenden Geräuschen irritiert, einmal fühlt sie sich sogar verfolgt und stürzt, als sie kopflos davonrennt, um dieses Ereignis später als Angriff auf ihre Person darzustellen. Sie fühlt sich in die Enge getrieben, von einer feindlichen Welt, aber auch von ihren inneren Dämonen. So ergibt sich das Bild einer Frau, der man nie wirklich nahe kommt, deren Wesen nicht greifbar ist. Gegen Ende erfährt man sogar, dass Teile ihrer Biografie so erfunden sind wie ihr Name. Wer ist Tár? Über diese Frage kann man auch lange nach dem Film noch nachdenken.
Note: 3