Jedes Jahr nehme ich mir vor, möglichst alle oscarnominierten Filme zu sehen, bevor die Preise vergeben werden. Manchmal ist das nicht möglich, weil der deutsche Start erst nach der Veranstaltung angesetzt wurde, häufig scheitert es aber an der fehlenden Zeit und immer öfter leider auch am mangelnden Interesse. Mit der Ausnahme des letzten Jahres hatte ich schon seit einer Ewigkeit keinen klaren Favoriten bei der Preisverleihung, die für mich inzwischen jeden Glanz eingebüßt hat. Waren die Oscars früher eine Leistungsschau Hollywoods, das sich selbst feierte, kommt es mir heute vor, als würden weniger die kreativen Leistungen gewürdigt, sondern vielmehr die Werbekampagnen oder die Diversität und Wokeness der Branche.
Entsprechend schaue ich mir manche nominierte Filme eher aus Pflichtgefühl als aus wirklichem Interesse an, manchmal noch aus Neugier, wenn es sich um ein besonders ungewöhnliches Projekt handelt. Als der Trailer zu The Holdovers erschien, dachte ich auch zuerst genervt: Was soll das? Die Story spielt offensichtlich in den Siebzigerjahren, und die Macher haben sich allergrößte Mühe gegeben, nicht nur Ausstattung und Kostüme so zeitgemäß wie möglich zu gestalten, sondern den Film insgesamt so aussehen zu lassen, als wäre er damals gedreht worden. Dafür wurde allerdings kein Original-Equipment eingesetzt, sondern digital gedreht und dann künstlich verfremdet. Der Look ist tatsächlich authentisch, aber unwillkürlich fragt man sich auch, wie der Regisseur wohl eine Geschichte, die in den Zwanzigerjahren spielt, umsetzen würde. Als Stummfilm in körnigem Schwarz-Weiß?
Neugierig wurde ich auf den Film erst, als auf der Münchner Filmwoche eine längere Szene präsentiert wurde, die mir ungeheuer gut gefiel. Anschließend plauderte noch Paul Giamatti auf der Bühne über die Dreharbeiten. So landete der Film schließlich auf meiner Heiß-auf-Liste, und ich habe ihn nun angeschaut.
The Holdovers
Die Weihnachtsferien stehen an. Paul Hunham (Paul Giamatti), der antike Zivilisationen an einem Jungeninternat unterrichtet und von seinen Schülern Engagement und Höchstleistung verlangt, wird wegen seiner allzu strengen Benotung kritisiert. Weil er den Sohn eines Senators hat durchfallen lassen, verdonnert ihn die Schulleitung, die Aufsicht über die fünf Schüler zu führen, die über Weihnachten nicht nach Hause fahren können. Als einer von ihnen in letzter Minute doch noch von seinem Vater abgeholt wird und drei Mitschüler mitnimmt, bleibt nur noch Angus Tully (Dominic Sessa) übrig, dessen Mutter Hunham nicht erreichen konnte, um ihre Erlaubnis für die Reise einzuholen. Zusammen mit den beiden Männern ist noch die Küchenchefin Mary (Da`Vine Joy Randolph) in der Schule verblieben, die ihren Sohn gerade im Vietnamkrieg verloren hat.
Als Paul Giamatti in München danach gefragt wurde, wie viel von Paul Hunham in ihm steckt, antwortete er lachend, er hoffe, so wenig wie möglich. Denn der strenge Lehrer der Barton Academy, der gerne mit lateinischen und griechischen Zitaten beeindruckt und die Proteste seiner Schüler mit beißendem Sarkasmus begegnet, ist äußerst unbeliebt. Hunham ist pedantisch, eigenbrötlerisch und zynisch, und Angus, der mit seiner rebellischen Art schon aus einer ganzen Reihe von Schulen geflogen ist, kommt von Anfang an nicht mit ihm zurecht.
The Holdovers ist kein Mentor-Movie à la Der Club der toten Dichter. Hunham ist kein freundlicher, inspirierender Lehrer, der unkonventionelle Methoden anwendet, um seine Schüler zu Höchstleistungen zu motivieren, sondern ein Pauker der alten Schule, der mit Strenge und Disziplin regiert. Insofern erinnert die Geschichte eher an Auf Wiedersehen Mr. Chips, in dem es ebenfalls um die Wandlung eines unbeliebten, strengen Pädagogen in einen liebenswerten Menschen geht.
Das Drehbuch von David Hemingson erzählt aber nicht primär die Story einer Wandlung, obwohl es durchaus zu charakterlichen Veränderungen in den Figuren kommt, sondern eher die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft. Sowohl Hunham als auch Angus sind im Grunde einsame, verzweifelte Menschen, die in ihrem Leben viel Pech hatten und nun durch die Umstände gezwungen sind, mit jemandem über die Weihnachtsfeiertage auszuharren, den sie nicht mögen.
Hunham ist menschenscheu, weil er schielt und wegen einer Stoffwechselkrankheit einen unangenehmen Fischgeruch absondert, interessiert sich aber durchaus für die freundliche Sekretärin Lydia Crane (Carrie Preston), die sie alle zu einer Weihnachtsfeier einlädt. Angus wiederum fühlt sich von seiner Mutter vernachlässigt, seit sie einen neuen Ehemann hat, und sucht nach einem Platz im Leben. Darüber hinaus haben beiden Figuren Geheimnisse, die sie erst nach und nach enthüllen.
Mary ist die tragischste Figur des Trios, die ihr einziges Kind im Krieg verloren hat, einem Krieg, von dem die reichen jungen Männer der Schule aufgrund ihrer privilegierten Familien ausgenommen sind. So behandelt der Film ganz nebenbei auch die sozialen Ungerechtigkeiten jener Ära, den systemimmanenten Rassismus und die Benachteiligung einkommensschwacher Schichten.
Es sind vor allem die liebevoll gezeichneten Figuren, die einen sofort für den Film einnehmen. Selbst der mürrische Hunham wirkt noch sympathisch, weil er sich weder von seinem opportunistischen Rektor noch von den verwöhnten reichen Kindern einschüchtern lässt. Die Story selbst kommt allerdings nur langsam in Fahrt und behält ihr eher gemächliches Tempo bis zum Ende bei, und nicht nur optisch scheint der Film für die frühen Siebziger gemacht zu sein, spricht er doch vor allem die Themen jener Zeit an. Die Handlung selbst ist episodisch strukturiert, unaufgeregt und vor allem durch den limitierten Zeitrahmen gegliedert, was mitunter zu Wiederholungen und kleineren Längen führt, die aber kaum ins Gewicht fallen.
Alles in allem ist The Holdovers ein schöner, berührender und warmherziger Film über die ungewöhnliche Freundschaft zweier Außenseiter. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Note: 2