Mein Filmjahr 2023 – Teil 1

Nachdem ich letztes Jahr den Jahresrückblick ausfallen ließ, aus Gründen, auf die ich nicht ausführlich eingehen möchte, die aber mit unserem langen USA-Aufenthalt und persönlicher Saumseligkeit zusammenhängen, soll es heuer wieder eine Rückschau sowie einen Ausblick auf 2024 geben. Vor zwei Jahren, als der letzte Beitrag zu dem Thema erschienen ist, war er noch stark geprägt von den Erfahrungen der Pandemie-Jahre, die es uns Zuschauern nicht einfach gemacht haben, überhaupt Filme auf der großen Leinwand sehen zu können. Doch Anfang 2023 war endlich alles wieder normal – und dann ließ uns Hollywood im Stich.

Die gute Nachricht ist, dass die Besucherzahlen erneut gestiegen sind. Darüber muss man froh sein, dennoch war 2023 in mehrfacher Hinsicht kein Spitzenjahr, wofür es einige Gründe gibt: Durch die letzten Auswirkungen der Pandemie auf den Produktionsbetrieb sind zu Jahresbeginn weniger Filme gestartet, und dann fiel durch den Doppel-Streik der Apparat für weitere sechs Monate aus. Die Folgen müssen wir Zuschauer und die immer noch unter Energiekrise und Inflation leidenden Kinos tragen, denn es wurden sehr viele Produktionen verschoben, teilweise sogar nach 2025. Waren schon die letzten Monate von 2023 eher mau, was die Filmauswahl betrifft, wird mindestens das erste Halbjahr 2024 beinahe so etwas wie eine Kinodiät.

„Nobody knows anything“, wusste schon William Goldman über Hollywood zu sagen, und es scheint, als wüssten im Augenblick noch mehr Leute noch weniger als je zuvor. Filme, von denen man dachte, sie seien eine sichere Bank, funktionierten an den Kassen nicht oder spielten viel weniger ein, als man prognostiziert hatte. Auch der asiatische Markt, viele Jahre lang ein sicherer Abnehmer für US-Ware, wendet sich von den Geschichten aus Tinseltown ab. Die Studios haben Milliarden verloren, woran nicht allein der lange Streik schuld ist und auch nicht die hohen Verluste, die sie mit ihren Streamingdiensten eingefahren haben.

Ein Thema, über das man in letzter Zeit viel gelesen hat, ist die sogenannte Superheldenmüdigkeit. Tatsächlich hat vor allem das MCU mehr Niederlagen verkraften müssen als die Avengers im Kampf gegen Thanos, und auch die DC-Helden schwächelten im vergangenen Jahr. Man darf gespannt sein, ob sich diese Entwicklung in 2024 fortsetzen wird oder ob die Studios das Ruder herumreißen können. Durch die Tatsache, dass es in den nächsten Monaten streikbedingt weniger Marvel-Filme geben wird, bietet sich immerhin die Gelegenheit zur Neubesinnung, und das DCU steht sogar vor einem kompletten Neustart unter der Leitung von James Gunn.

Während man davon ausgehen kann, dass Hollywood auf diese Entwicklungen reagieren und sich anpassen wird, kann man sich in Deutschland nur einer Sache sicher sein: Egal, wie tief die Karre im Dreck steckt, es wird sich garantiert nichts ändern. Wenn die US-Studios, wie in den letzten Jahrzehnten geschehen, ganze Genres und Besuchergruppen vernachlässigen, hätte man diese Lücken füllen können. Aber das ist nicht passiert. 2023 sind eine ganze Reihe von Projekten gefloppt, viele davon Bestsellerverfilmungen, die immer als sichere Bank galten. Man sollte meinen, dass nun ein Umdenken einsetzt, dass man mehr auf den Markt schaut und sich weniger auf die alten Mechanismen verlässt, aber auch das wird nicht geschehen. Der Nachwuchs rebelliert, weil er keine Chance bekommt und unter prekären Arbeitsbedingungen arbeiten muss, aber man wird ihn wohl an der ausgestreckten Hand verhungern lassen. Eine Reform der Filmförderung wurde angekündigt, und vielleicht wird es letzten Endes auch zu einigen Veränderungen kommen, allein mir fehlt der Glaube, dass diese ausreichen werden.

Natürlich gab es in 2023 deutsche Erfolge, und auch in diesem Jahr dürfte es einige Hits geben, was eine feine Sache ist. Aber eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, und eine zweite auch nicht. Dass der deutsche Marktanteil im vergangenen Jahr relativ hoch war, liegt nämlich vor allem an Co-Produktionen wie John Wick – Kapitel 4, immerhin der erfolgreichste deutsche Film in 2023, und den beliebten Kinderfilmen. Würde man diese rausrechnen und nur Produktionen für ein erwachsenes Publikum zählen, sähe das Ergebnis völlig anders aus.

Immerhin bietet der Mangel an US-Ware in den nächsten Monaten deutschen und europäischen Produktionen die Möglichkeit, besser an der Kasse abzuschneiden. Insofern kann eine Krise auch eine Chance bedeuten. Dennoch war die meistgestellte Frage auf der Münchner Filmwoche, wie hoch wohl die Besucherzahlen in diesem Jahr sein werden. Noch immer liegen alle Länder unter dem Vor-Pandemie-Niveau, und durch den streikbedingten Produktionsausfall in Hollywood wird sich diese Situation noch weiter verlängern. Deshalb muss 2024 aber kein Katastrophenjahr werden. Wenn ich mir die Filme der nächsten Monate anschaue, sehe ich durchaus genug Potential, um das letztjährige Ergebnis zu halten oder nur knapp darunter zu liegen. Und das ist zumindest keine schlechte Nachricht.

Doch die Unsicherheit, die die Branche seit langem beschäftigt, wird auch weiterhin andauern. Die Auswirkungen des Streiks werden wohl oder übel noch das ganze Jahr über zu spüren sein, und erst in 2025 sollte, sofern uns keine neue politische oder wirtschaftliche Krise heimsuchen wird, alles wieder normal laufen. Vielleicht werden auf der Münchner Filmwoche 2026 dann viele begeistert sein, weil wir endlich wieder auf dem Vor-Corona-Niveau sind, dabei aber vergessen, dass damals wirklich jeder in der Branche mit diesen Zahlen kreuzunglücklich war. Ach, die wundersame Welt der Amnesie.

Möglicherweise irre ich mich und wir kehren in zwei, drei Jahren wieder zu stabilen Besucherzahlen um die 120 Millionen pro Jahr zurück, aber ich habe den Eindruck, dass wir gerade eine fundamentale Veränderung im Zuschauerverhalten beobachten können. Kurz gesagt, die Leute sind wählerischer geworden. Dass sie weniger ins Kino gehen als früher, liegt nicht nur an den Streamingdiensten mit ihrem reichhaltigen Angebot, der Inflation oder daran, dass es pandemie- oder streikbedingt nicht genügend Filme gibt, und es liegt auch nicht an der Institution Kino an sich. Die Leute lieben immer noch das Gemeinschaftsgefühl, die dem Heimkino überlegene technische Ausstattung und die Magie, die sich nur auf der großen Leinwand entfalten kann, aber Kino bekommt für sie mehr und mehr Eventcharakter.

Für das Publikum ist das Kino immer noch attraktiv, und viele sind auch bereit, mehr Geld für Luxussitze, Snacks und Sondervorstellungen wie Taylor Swift: The Eras Tour auszugeben, aber der Besuch muss Eventcharakter haben. Das war besonders deutlich letzten Sommer zu sehen, als zwei komplett unterschiedliche Filme zum Hype hochstilisiert wurden und für volle Säle sorgten. Oder 2022 ein Horrorfilm wie Smile plötzlich durch die Decke geht, weil er gerade angesagt ist. Umgekehrt hat es die Mittelware immer schwerer. Ich sehe das auch an mir selbst: Wenn ich die Wahl habe zwischen einem mittelprächtigen Film im Kino und einem von vergleichbarer Qualität bei einem Streamingdienst, bleibe ich lieber gleich auf der Couch.

Das Kino braucht mehr Exklusivität, Filme, die lange auf der großen Leinwand zu sehen sind und nicht bereits in wenigen Wochen im Stream, Filme mit Wow-Effekt, die uns nicht das Gefühl vermitteln, wir hätten sie bereits zigmal gesehen. Aber leider habe ich schon seit einigen Jahren den Eindruck, dass die Qualität immer weiter nachlässt. Wie oft liest man, dass es noch während der Dreharbeiten umfangreiche Änderungen beim Drehbuch gegeben hat. Da frage ich mich, warum man überhaupt einem Projekt grünes Licht gibt, wenn man nicht restlos von seinem Drehbuch überzeugt ist. Ist der Druck, immer mehr neuen Content zu produzieren, auch um die hauseigenen Streamingdienste zu bedienen, bei den Studios so groß, dass ihnen die Qualität egal ist?

Darüber hinaus gäbe es noch viel mehr zu der Problematik zu sagen, die gerade sehr viele Menschen in der Branche umtreibt, aber das ist eine andere Geschichte …

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.