Rémi – sein größtes Abenteuer

Im Ruhrgebiet hätte der Film wahrscheinlich Dem Rémi sein größtes Abenteuer geheißen, im Entstehungsland Frankreich hieß er Rémi sans famille, in Anlehnung an die literarische Vorlage, die Sans famille heißt und 1878 erschienen ist. Bei uns ist der Kinderroman unter dem Titel Heimatlos erschienen, und ich habe das Buch, das ich irgendwann zwischen zehn und zwölf gelesen habe, geliebt. Die Geschichte erinnert entfernt an die Romane von Charles Dickens, der ebenfalls zu meinen Lieblingsautoren gehört, und das Setting im 19. Jahrhundert hat mich schon damals fasziniert.

Der Roman ist bereits neunmal zuvor verfilmt worden, darunter gleich dreimal in Japan, unter anderem als Animeserie in den Siebzigern (wer erinnert sich nicht an die Versionen anderer Klassiker wie Heidi oder Sindbad?). 2018 kam die zehnte Verfilmung in die Kinos, bei uns dagegen erst Ende 2021, wo sie mit sehr überschaubarem Erfolg lief: 442 Besucher. Nun ist der Film bei Wow, und vor Weihnachten sieht man sich solche Stoffe ja ganz gerne an. Ich hatte zuvor allerdings Bedenken, ob die Adaption der Vorlage gerecht werden würde.

Rémi – sein größtes Abenteuer

Rémi (Maleaume Paquin) wächst behütet in einem kleinen Bauerhaus auf dem Land auf, zusammen mit Mutter Baberin (Ludivine Sagnier) und der Kuh Rosette. Als Monsieur Baberin (Jonathan Zaccaï) einen Unfall erleidet und die Familie dringend Geld braucht, wird zuerst die Kuh verkauft – und dann Rémi. Der Junge erfährt zudem, dass er nicht das leibliche Kind der Baberins ist, sondern auf der Türschwelle einer Kirche gefunden wurde. Weil er in eine wertvolle Decke gewickelt war, glaubte Baberin, dass die reichen Eltern eines Tages nach ihm suchen würden. Nun wird Rémi für ein Jahr dem fahrenden Straßenkünstler Vitalis (Daniel Auteuil) überlassen und zieht mit ihm, seinem dressierten Hund und einem Affen kreuz und quer durch Frankreich.

Als ich das Buch als Kind geschenkt bekommen habe, hat mich sein enormer Umfang zunächst abgeschreckt, aber sobald ich angefangen hatte zu lesen, konnte ich nicht mehr aufhören. Die Geschichte lebt von den Alltagsbeschreibungen des Vagabundenlebens, von den vielen kleinen und größeren Abenteuern, die die bunte Schar erlebt, und den Menschen, denen sie unterwegs begegnen. Manche Erlebnisse sind drastisch, handeln von Hunger, Krankheit und Polizeiwillkür, andere sind erbaulich und herzerwärmend. Die Herausforderung des Drehbuchautors und Regisseurs Antoine Blossier bestand vor allem darin, diesem episodischen Charakter einerseits Rechnung zu tragen, andererseits aber die Rahmengeschichte voranzutreiben. Das ist insgesamt sehr gut gelungen.

Natürlich kommen viele Erlebnisse zu kurz, vor allem Rémis Leben auf der Straße, und auch seine frühen Jahre mit Mutter Baberin werden nur gestreift. Dennoch bekommt man einen guten Eindruck von dem behüteten, liebevollen Zuhause, das Rémi geboten wurde, und auch Vitalis, der zunächst bedrohlich und einschüchternd wirkt, entpuppt sich als fürsorglicher Ziehvater für den kleinen Jungen.

Rémi verfügt zudem über eine begnadete Stimme (ein Detail, an das ich mich aus dem Roman nicht erinnern kann) und singt immerzu ein Lied, das ihn schon sein ganzes Leben lang begleitet. Dieses Lied, das er noch aus seiner Zeit bei seinen leiblichen Eltern kennt, wird später, zusammen mit der Babydecke, dazu führen, dass er seine Familie wiedertrifft. Diese Story ist für heutige Zuschauer leider nicht besonders glaubwürdig, schließlich ist es unwahrscheinlich, dass sich ein Baby an ein Wiegenlied erinnert, aber mit etwas gutem Willen schluckt man auch das.

Nicht nur der Junge, sondern Vitalis ist musikalisch begabt und war einst ein berühmter Violinist, der aufgrund eines persönlichen Traumas seine Karriere aufgegeben hat. Man merkt an diesen Elementen bereits, dass die Geschichte eine sentimentale, märchenhafte Note besitzt. Sie handelt von guten Menschen, die viel Leid erdulden müssen, die aber aufgrund ihrer Tugendhaftigkeit am Ende belohnt werden, auch wenn ihnen dafür ein hoher Preis abverlangt wird. Zeitgemäß ist das alles nicht mehr, aber vor allem in der Weihnachtszeit lässt man sich gerne darauf ein.

Der Film ist nahe genug am Roman dran, um bei Fans wie mir punkten zu können, auch wenn man sich wünschen würde, dass manche Episoden länger ausfallen würden. Er ist mit hochkarätigen französischen Stars besetzt, wunderschön fotografiert und vor allem zum Ende hin emotional sehr bewegend. Der perfekte Weihnachtsfilm für alle, die sich sonst immer Der kleine Lord ansehen.

Note: 2

In diesem Sinne wünsche ich allen Leserinnen und Lesern besinnliche Feiertage und einen guten Rutsch ins neue Jahr. Der Blog pausiert eine Weile, aber voraussichtlich ab dem 10. Januar bin ich wieder da.

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.