Lass ihn gehen

Kevin Costner scheint man nur noch im Westernlook mit Cowboystiefeln und Stetson zu sehen. Das liegt vor allem an seiner Rolle in der Erfolgsserie Yellowstone, aber auch sonst hat er in seiner langen Karriere in zahlreichen Western mitgespielt: Der mit dem Wolf tanzt, Open Range, Wyatt Earp – Das Leben einer Legende oder Silverado, um nur einige zu nennen. Und mit dem Kino-Zweiteiler Horizon: An American Saga will er kommendes Jahr noch einmal an seinen Blockbuster Der mit dem Wolf tanzt anknüpfen.

Dieser kleine Film ist allerdings kein typischer Western, sondern bestenfalls ein Neo-Western, gepaart mit einem Gangsterdrama, und Costner spielt keinen Cowboy, sondern einen ehemaligen Sheriff mit einer Pferdefarm. Der Trailer sah gut aus, aber nicht herausragend, der imdB-Wert ist mit 6,7 auch nicht umwerfend, aber die starke Besetzung hat hierbei den Ausschlag gegeben, und so habe ich den Film letztes Wochenende angesehen, bevor er morgen bei Prime Video verschwindet.

Lass ihn gehen

George (Kevin Costner) und seine Frau Margaret (Diane Lane) verlieren zuerst ihren Sohn James (Ryan Bruce) bei einem Reitunfall, dann heiratet seine Witwe Lorna (Kayli Carter) drei Jahre später Donnie Weboy (Will Brittain) und zieht mit ihrem Sohn zu ihm in die Stadt. Als Margaret sieht, dass Donnie sowohl Mutter als auch Kind schlägt, macht sie sich große Sorgen. Sie will den Jungen zu sich holen, doch da verschwindet die kleine Familie über Nacht. Margaret überredet George, sie zu suchen, und die beiden gelangen schließlich zu Donnies Familie in North Dakota. Dort führt seine Mutter Blanche (Leslie Manville) ein strenges Regiment, und sie ist nicht bereit, das Kind seinen Großeltern zu überlassen.

Der Roman von Larry Watson, auf dem der Film basiert, spielt Anfang der Fünfzigerjahre, doch Regisseur und Drehbuchautor Thomas Bezucha hat die Handlung ein Jahrzehnt später angelegt, sie besitzt allerdings etwas Zeitloses, denn im ländlichen Amerika scheinen die Uhren seit dem Zweiten Weltkrieg nahezu stillzustehen. Das Leben ist hart, die Menschen wortkarg und misstrauisch gegenüber Fremden.

Bezucha entführt uns zunächst auf die Farm der Familie und zeigt uns ein beschauliches, vielleicht nicht idyllisches, aber doch harmonisches Leben dreier Generationen. Lorna kommt nicht besonders gut mit ihrer Schwiegermutter zurecht, weil die taffe Margaret, die früher Pferde eingeritten hat, verschlossen und nicht gerade herzlich ist, aber solange James lebt, ist die Welt in Ordnung. Mit seinem Tod zerbricht jedoch die Familie, und George und Margaret fühlen sich einsam.

Der Film nimmt sich viel Zeit, die Protagonisten und ihr Leben vorzustellen, und auch die Suche nach Donnie und Lorna führt über Umwege. Die Eheleute fahren übers Land, lernen den Indianer Peter (Booboo Stewart) kennen, der sich allein auf der Prärie durchschlägt, und stöbern irgendwann Donnies Familie auf. Bis dahin ist bereits die erste Hälfte des Films vorbei, und sie wird nicht gerade flott erzählt.

Aber man folgt gerne den Figuren auf ihrer Reise, bekommt ein paar winterlich karge, aber dennoch pittoreske Landschaften zu sehen, und mit der Ankunft bei Donnies Mutter Blanche gewinnt die Geschichte schlagartig an Intensität. Leslie Manville, die eine äußerst wandlungsfähige Darstellerin ist, übertrifft sich nahezu selbst mit ihrer Performance der rauen, knallharten Matriarchin des Weboy-Clans, von der sich so mancher Mafiaboss eine dicke Scheibe abschneiden könnte. Nach außen hin gibt sie sich charmant, spart aber nicht mit passiv-aggressiven Kommentaren und schlecht verschleierten Drohungen.

Das Abendessen, zu dem George und Margaret genötigt werden, ist das erste Highlight der Geschichte, die plötzlich wie aus dem Winterschlaf erwacht zu sein scheint. Die zweite Auseinandersetzung mit den Weboys, die einige Zeit später stattfindet, ist sogar noch kraftvoller und von einer Intensität, dass man während der gesamten Szene geradezu vor Spannung die Luft anhält. Nach einigen ruhigeren Momenten nimmt die Story dann im furiosen Finale erneut an Tempo auf und endet zwar vorhersehbar, aber insgesamt befriedigend und erinnert in ihrer Art durchaus an die typische Duell-Situation, wie man sie aus einem klassischen Western kennt.

Ein Drama, das in seiner ersten Hälfte mit angezogener Handbremse fährt, dann aber zunehmend an Fahrt gewinnt. Kein herausragendes Meisterwerk, aber ein gutes Genre-Stück mit drei unvergesslichen und starken Szenen.

Note: 3+

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.