Die Geschäftspolitik von Netflix in den letzten Jahren ist mir in mancher Hinsicht ein Rätsel. In ihren Anfangstagen, als es darum ging, möglichst viel Content zur Verfügung zu stellen, haben sie eine Menge Filme und Serien in ihr Programm aufgenommen, von denen verständlicherweise nicht alle die höchste Qualität hatten. Später begannen sie, ihre eigenen Inhalte zu konzipieren, Prestige-Produktionen wie House of Cards, die neue Abonnenten angelockt haben. Das ist auch heute noch so, aber darüber hinaus stellen sie noch jede Menge Serien und vor allem Filme her, die weiterhin nur den Zweck zu haben scheinen, für Masse zu sorgen. Gerade der Output bei den Filmen ist von erschreckend schlechter Qualität, und ich frage mich, ob sie es einfach nicht besser hinbekommen (wie ihre Trailer, die immer noch ziemlich schlecht sind), oder ob es der Eile geschuldet ist, die es nicht erlaubt, viel Zeit auf die Drehbucharbeit und die Vorproduktion zu verwenden. Oder ob es ihnen vielleicht einfach egal ist.
Vergangenes Wochenende ist jedenfalls ein neues Prestige-Projekt bei Netflix gestartet, hochkarätig besetzt und mit einem einigermaßen effektiven Trailer ausgestattet, und da ich neugierig war, habe ich es mir angesehen.
Leave the World Behind
Amanda (Julia Roberts) hat genug von der Hektik ihres New Yorker Alltags und entscheidet, dass die Familie eine kurze Auszeit braucht. Deshalb mietet sie eine Villa auf Long Island und fährt mit ihrem Ehemann Clay (Ethan Hawke) sowie den Kindern Archie (Charlie Evans) und Rosie (Farrah Mackenzie) aufs Land. Doch schon am Nachmittag, als sie gerade faul am Strand liegen, passiert etwas Seltsames: Ein Tanker hält auf die Küste zu und strandet spektakulär. Kurz darauf fallen Telefon und Internet aus, und in der Nacht stehen plötzlich G.H. (Mahershala Ali) und seine Tochter Ruth (Myha’la Herrold) vor der Tür, die sich als die Eigentümer des Anwesens vorstellen. Sie erzählen von Stromausfällen in New York und anderen Vorkommnissen, die die Möglichkeit nahelegen, dass die USA angegriffen werden.
Wenn man an Endzeitfilme denkt, dann fallen einem in erster Linie verstörende Untergangsszenarien ein, wie man sie aus 2012 – Das Ende der Welt kennt oder aus The Day After, die zeitgeschichtliche Themen und allgemeine Ängste widerspiegeln. Oder die Handlung driftet komplett ins Fantastische ab und erzählt von der Zombieapokalypse oder einer Invasion von Aliens. Was die meisten dieser Filme gemeinsam haben, ist eine opulente, bildgewaltige Erzählweise, die gleichermaßen Ängste schüren als auch für Erstaunen sorgen soll. Immer wird dabei von der Welt vor der Katstrophe erzählt, von den Menschen und ihren Problemen, und dann von dem Danach, dem Untergang und wie die Protagonisten um ihr Leben kämpfen.
Leave the World Behind erfüllt diese Merkmale nur zum Teil. Mit dem Tanker, der auf den Strand und die Familie zusteuert, gelingt dem Regisseur Sam Esmail zwar ein Money-Shot (und einen zweiten einige Zeit später), der beeindruckt, aber danach ziehen sich die Figuren wieder in ihr gemietetes Haus zurück, und der Rest der Films ist nahezu ein Kammerspiel. Es wird zwar die Welt davor gezeigt, aber nicht so sehr die danach – weil sich für die Protagonisten nicht allzu viel ändert. Die Villa verfügt weiterhin über Elektrizität, obwohl zuvor von Stromausfällen an der gesamten Ostküste die Rede war, und Hunger muss auch keiner leiden. Die Welt geht unter, und die Helden mixen Cocktails.
Aber geht die Welt wirklich unter? Durch den Ausfall von Strom und Internet sind die Figuren von den Ereignissen außerhalb ihres Anwesens abgeschnitten. Anfangs gab es noch Benachrichtigungen auf dem Handy, die von Hackerangriffen berichteten, aber dann funktioniert nichts mehr, nicht einmal das Sattelitentelefon des Nachbarn. Langsam begreifen die Figuren und mit ihnen der Zuschauer, dass dies ein größerer Angriff auf die Nation sein könnte. Aber von wem? Irgendwann werden Flugblätter mit arabischer Schrift abgeworfen, die natürlich keiner lesen kann, die aber beunruhigend sind und Erinnerungen an den 11. September 2001 wecken. Sind die USA im Krieg? Aber warum sieht man keine Kampfjets am Himmel?
Die große Stärke des Films ist, dass es Sam Esmail gelingt, diese diffuse Atmosphäre aus Angst und Bedrohung über weite Strecken aufrecht zu erhalten. So wie in einem Horrorfilm das Monster, das man nicht sieht und sich nur vorstellt, immer gruseliger ist als alles, was man zu sehen bekommt, ist auch hier die Vorstellung dessen, was passiert sein könnte, schlimmer als das, was Esmail zeigt. Untermalt wird das von der aufpeitschenden, aber doch minimalistischen Musik von Marc Quayle, die für nervenzerfetzende Spannung sorgt, selbst wenn die Figuren dabei nur banalen Alltagsbeschäftigungen nachgehen.
Das Drehbuch, das der Regisseur nach dem Bestseller von Rumaan Alam verfasst hat, beschreibt noch weitere beklemmende Szenarien: Selbstfahrende Autos verursachen eine Massenkarambolage und versperren so die Straßen, und die Wildtiere, insbesondere die Rehe, zeigen merkwürdige Verhaltensweisen. Praktischerweise funktioniert einmal für wenige Sekunden das Radio, um von einer Umweltkatastrophe im Süden zu berichten, die dafür verantwortlich ist, wobei man nie erfährt, was passiert ist und wie sich das auf die Rehpopulation Tausende Meilen entfernt auswirkt. Aber eines Tages landen wilde Flamingos im Pool der Villa. Warum auch nicht? Die Katastrophe bleibt vage und ungefähr und damit leider auch ein Stück weit beliebig.
Spätestens wenn ein ohrenbetäubend lautes Geräusch in der nahezu menschenleeren Gegend erklingt und man sich fragt, ob dies nicht doch ein Film über eine Alien-Invasion sein könnte, begreift man, dass es keine Antworten gibt, sondern nur weitere Spekulationen. Das wäre nicht weiter schlimm, weil man als Zuschauer ja wie die Figuren auch von allen Informationen abgeschnitten ist und zunehmend hilflos nach einer Erklärung sucht oder wenigstens nach einem Muster. Dass der Film weitaus mehr Fragen aufwirft als beantwortet, ist nicht das größte Problem, sondern dass Esmail zu wenig darüber erzählt, was all diese beklemmenden und verstörenden Momente mit den Figuren machen. Es fehlt, kurz gesagt, das Danach, das die meisten Endzeitfilme ausmacht.
Wo andere Geschichten Konflikte schaffen, von Auseinandersetzungen um Nahrung und Wasser erzählen, von Verzweiflung und Ängsten, Wut und Aggression, produziert Esmail nur weiteres Unbehagen und Spekulationen. Dramatisch ist das nicht, packend erzählt schon, dank einer guten Kamera und einem eingängigen Score. Aber das Tempo ist nicht gerade flott und der Film mit fast zweieinhalb Stunden auch viel zu lang.
Esmail gliedert seine Geschichte in verschiedene Teile, deren Überschriften immer reißerischer werden. Eine davon heißt „Die Flut“ und weckt prompt falsche Erwartungen, obwohl sie sich letzten Endes nur auf eine Geschichte bezieht, die Rosie ihrer Mutter erzählt und die sie aus einer Fernsehserie hat. Amanda hört sich das Gleichnis an und möchte dann wissen, warum ihre Tochter es ihr erzählt. Und genau das gleiche fragt man sich als Zuschauer auch. Was will der Film uns eigentlich sagen?
Schon zu Beginn konstatiert Amanda, die in der Werbung arbeitet, dass sie Menschen nicht mag. Später führt sie ihre Misanthropie noch weiter aus, bleibt dabei aber so allgemein, dass sie von Ehe- und Nachbarschaftsproblemen bis hin zum Völkermord alles meinen könnte. Auch sie ist anfangs ziemlich biestig zu G.H. und Ruth, die ihr natürlich unterschwelligen Rassismus unterstellen, aber mit der Zeit kommen sie sich näher. Die Not verbindet, auch das ist eher unüblich in Endzeitfilmen, in der selbst noch in größter Lebensgefahr alte Streitigkeiten geklärt werden müssen. Immerhin davor werden die Zuschauer bewahrt, denn es gibt keine Ehe- oder sonstigen Konflikte.
Rosie ist besessen von der Serie Friends, die sie bis auf die letzte Folge gesehen hat, und die Angst, nun nie zu erfahren, wie diese ausgeht, macht ihr stärker zu schaffen als die Vorstellung, dass die Welt gerade in Chaos und Krieg versinkt. Ihrem Bruder vertraut sie an, dass ihr niemand wirklich zuhört und ihr die Serie ein Gefühl von Geborgenheit gibt. Ruth hingegen warnt vor der Flucht in fiktionale Geschichten, weil diese von einer Welt erzählen, die es nie gab. G.H. wiederum belehrt Amanda, dass nicht so sehr Verschwörungstheorien über böse Mächte, die die Welt zerstören wollen, erschreckend sind, sondern die Erkenntnis, dass es eigentlich niemanden gibt, der die Kontrolle hat. Esmail versucht sich hier an Medien- und Gesellschaftskritik, bleibt dabei aber so vage wie seine Story über das vermeintliche Ende der Welt.
Dennoch passt dieses Themengemenge ganz gut in unsere Zeit. Viele, nicht nur junge Menschen fürchten sich vor einer unsicheren Zukunft und einer immer unberechenbareren Gegenwart. Pandemie, Krieg und Inflation haben uns ein Gefühl von Hilflosigkeit und Kontrollverlust vermittelt, und gleichzeitig sehen wir, wie der gesellschaftliche Kitt immer weiter bröckelt und sogar die Demokratie selbst in Gefahr gerät. Insofern ist Leave the World Behind tatsächlich ein gelungener Endzeitfilm, weil er diese diffusen Ängste aufgreift und der Unsicherheit und Überforderung durch zu viele gleichzeitige Bedrohungen Raum gibt. Aber, und das ist seine fatale Schwäche, er erzählt dabei zu wenig von den Menschen und der psychischen Zersetzungskraft dieses Angstgefühls.
Seid nett zueinander, könnte die Botschaft sein, die Esmail uns senden will, was ja auch irgendwie zu Weihnachten passt. Ansonsten werden im Finale, das sich noch zu einer halbherzigen Konfrontation hinreißen lässt, wenigstens ein paar Erklärungen geliefert, die jedoch bei weitem nicht alle Fragen beantworten und zudem recht unrealistisch wirken. Das schwache Ende eines Films, dem auf halber Strecke die Puste ausgeht.
Note: 3