Ténor

Beim Stöbern im Wow-Angebot bin ich auf diesen Titel gestoßen und habe mich vage daran erinnert, dass wir im letzten Jahr auf einer Tradeshow den Trailer dazu gesehen haben. Die Grundidee hatte mir damals gefallen, aber dann geriet die Produktion bei mir komplett in Vergessenheit. Aber als ich nun Lust auf ein heiteres Cheerie-Movie hatte, fiel mir der Film wieder ein.

Ténor

Antoine (Mohamed Belkhir) stammt aus einem Pariser Banlieue, verdient sein Geld als Lieferant eines Sushi-Restaurants und besucht Vorlesungen, um Buchhalter zu werden, obwohl sein Herz für die Musik schlägt, denn er nimmt regelmäßig an Battle-Raps teil. Eines Tages liefert er Essen in die Pariser Oper und platzt in eine Stunde der Gesanglehrerin Madame Loyseau (Michèle Laroque). Er legt sich mit einem arroganten Schüler an und singt, um ihn zu verspotten, ein paar Takte aus einer Oper. Beeindruckt von seiner Stimme bietet ihm die Lehrerin daraufhin an, ihn zu einem professionellen Sänger auszubilden.

Die Geschichte hat alles, was ein klassisches Cheerie-Movie braucht: Einen sympathischen Außenseiter-Helden, der in diesem Fall aus dem Prekariat stammt und in die elitäre Welt der Oper stolpert, der zwar Talent hat, aber aufgrund seiner Herkunft geringschätzig behandelt wird und sich seinen Platz erobern muss. Hinzukommt eine engagierte Mentorin, ein Love-interest innerhalb der Gruppe sowie eine gute Freundin aus der Nachbarschaft, die heimlich in den Helden verliebt ist. Auch der Kontrast zwischen Oper und Rap ist spannend, und zu sehen, wie Antoine sich in beiden Welten behaupten und dabei seine Identität finden muss, ist grundsätzlich interessant.

Es scheint, als hätten sich der Regisseur Claude Zidi Jr. und seine Co-Autoren Raphaël Benoliel und Cyrille Droux einige Cheerie-Movies angesehen und dann alle relevanten Storyelemente übernommen – allerdings ohne sie gekonnt in die Handlung zu integrieren. So wird die Bedeutung der Musik für Antoine nie wirklich deutlich, weder seine Begeisterung für den Rap noch für die Oper. Warum ist er plötzlich so besessen von klassischer Musik, dass er unbedingt Opernsänger werden will? Warum ist ihm der Rap auf einmal nicht mehr so wichtig, obwohl er früher sein Lebensinhalt war? Auf diese Fragen gibt es leider keine Antwort, Antoine wird weitgehend oberflächlich geschildert.

Das gilt auch für seine Beziehungen. Am besten versteht man noch sein Verhältnis zu seinem älteren Bruder, der sein Geld mit illegalen Faustkämpfen verdient und stets Antoines Beschützer war. Die Mutter lebt weit entfernt und telefoniert täglich mit ihren erwachsenen Söhnen, aber warum sie fort ist, bleibt ein Geheimnis. Auch aus Antoines Affäre mit einer Mitschülerin entwickelt sich nichts, sie kommen zusammen, verbringen etwas Zeit miteinander, ohne dass man weiß, ob sie wirklich ein Paar sind, bevor das Ganze im Sande verläuft und mit keinem Wort mehr erwähnt wird. Mit der Freundin aus der Nachbarschaft gibt es noch eine weitere Bezugsperson, die Antoine aber eher als Schwester betrachtet. Daraus hätte sich trotzdem eine interessante Dreiecksgeschichte entwickeln können, aber Antoine Gefühle werden nie thematisiert.

Schon sehr früh in der Geschichte wird angedeutet, dass Madame Loyseau todkrank ist, aber auch ihre Krankheit spielt keine Rolle, führt weder zu Problemen noch einem sentimentalen Ende, obwohl sie Antoine immerhin noch einen warmherzigen Abschiedsbrief hinterlässt. Dennoch ist dieser Handlungsstrang vollkommen überflüssig. Auch ist es völlig unsinnig, dass eine Gesangsausbildung, wie hier behauptet, innerhalb weniger Monate abgeschlossen ist. Professionelle Sänger brauchen Jahre, um, wie hier im Finale, ihr Studium abzuschließen und zu einem Vorsingen zu gehen.

Obwohl sich die Autoren bemühen, eine Menge Konflikte zu etablieren, schaffen sie es nicht, diese auch konsequent weiterzuentwickeln. So gibt es einen Mitschüler, mit den sich Antoine von Anfang an streitet, bis dieser plötzlich ganz nett zu ihm ist und ihre Beziehung sich auf wundersame Weise normalisiert. Andere Konflikte werden nicht einmal angerissen. So fragt man sich, warum lange Zeit niemand Verdacht schöpft, dass Antoine eine Gesangsausbildung macht. Übt er denn nie zu Hause? Aus der Notwendigkeit, seine neue Leidenschaft geheim zu halten, weil es auch in seinem Umfeld starke Vorurteile gegenüber dieser Kunstform gibt, hätte man einiges an Konfliktpotential und Komik herausholen können, aber es wird komplett verschenkt. Am besten entwickelt sich noch Antoines innerer Konflikt, seine Zerrissenheit wird zwar nicht stark betont, schwingt aber mit, ansonsten sieht man, wie er sich bei dem Versuch, es allen recht zu machen, aufreibt. Das wird nicht schlecht erzählt, ist aber insgesamt doch etwas zu wenig.

Ténor verfügt über eine tolle Grundidee, einen sympathischen Hauptdarsteller und stellenweise sogar über Humor, und er ist – auch das sollte man nicht unterschätzen – von Anfang bis Ende unterhaltsam. Aber er verzettelt sich in zu vielen Handlungssträngen, schafft es nicht, seine Konflikte wirksam zu etablieren und zu Ende zu erzählen, und vergibt dadurch sämtliche Möglichkeiten. Schade. Falls diese französische Woche etwas bewiesen hat, dann, dass unsere Nachbarn bei der Stoffauswahl zwar mutiger sind, es aber sonst ebenfalls nicht auf die Reihe kriegen. Irgendwie ein Trost, wenn man so will.

Note: 3-

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.