Seitdem die Briten die EU verlassen haben, hört man fast nur noch Horrorgeschichten über die sozialen Verwerfungen und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die mit dem Brexit einhergehen: Firmenschließungen, zunehmende Fremdenfeindlichkeit und Verarmung sind hierbei die häufigsten Themen, und die Inflation, die in Großbritannien noch brutaler zugeschlagen hat als auf dem Kontinent, hat alles noch wesentlich schlimmer gemacht.
Wenn man sich britische Filme und Serien ansieht, fällt allerdings auf, dass weder der Brexit noch die aktuellen gesellschaftlichen Probleme darin häufig thematisiert werden. Dabei ist die Situation durchaus vergleichbar mit der Zeit, als Großbritannien der kranke Mann Europas war und sich gleichzeitig eine ungeheuer kreative Filmszene entwickelte, die sich auch und vor allem mit den sozialen Problemen des Landes auseinandersetzte.
Ken Loach war schon immer bekannt dafür, seinen Finger in gesellschaftliche Wunden zu legen, und als für diese Woche sein neuer Film über einen Pub angekündigt wurde, dachte ich zuerst an das Kneipensterben, von dem man so viel hört. Doch der Film, den ich im Sommer auf dem Münchner Filmfest gesehen habe, hat mich zunächst in die Irre geführt.
The Old Oak
2016 werden syrische Flüchtlinge in einem ehemaligen Bergarbeiterdorf in der Nähe von Durham angesiedelt. Die Einheimischen wollen die Fremden nicht, denen sie die Schuld am Verlust ihrer Arbeitsplätze und dem Wert ihrer Häuser geben. Vor allem im Pub The Old Oak, dem letzten verbliebenen Zentrum des Ortes, wird häufig gegen die Syrer gehetzt. Doch der Wirt, TJ Ballantyne (Dave Turner), engagiert sich für die Flüchtlinge und freundet sich mit der jungen Yara (Ebla Mari) an, die Fotografin werden will. Gemeinsam rufen sie ein Projekt ins Leben, das die Einheimischen und die Fremden verbinden soll, indem die Menschen gemeinsam kochen und essen.
Ken Loach ist sich wieder einmal treu geblieben: Er inszeniert das Drehbuch von Paul Laverty nah an der Realität, setzt wieder einmal begabte Laiendarsteller ein und schafft so ein Werk, das semi-dokumentarisch wirkt. Im Zentrum steht jedoch der Wirt TJ, der jeglichen Glauben verloren hat, an Gott, den Staat, die Menschheit und das Gute an sich. Ruhig und besonnen geht er seiner Arbeit nach, hilft den Sozialarbeitern, hat aber seinen Job als Jugendtrainer schon lange an den Nagel gehängt. Er geht den Weg des geringsten Widerstands, fristet sein Dasein so würdevoll und selbstbestimmt, wie es ihm die Umstände erlauben.
Weil TJ von den wenigen Stammkunden abhängig ist, die ihm gerade genug Geld einbringen, um den Pub nicht schließen zu müssen, widersetzt er sich auch nicht ihrem rechten Gedankengut, das weniger ihren Überzeugungen entspricht, sondern ihrer Verzweiflung. Und die kann TJ gut verstehen. Die Menschen sind zermürbt und fühlen sich vergessen. Zusammen mit den Zechen starb vor Jahrzehnten auch der Ort, und die Zurückgebliebenen irren wie Geister durch eine Welt, die sie nicht mehr verstehen und die sie nicht haben will. Ihre Frustration entlädt sich auf die Flüchtlinge, weil, wie TJ weise feststellt, die Menschen immer nach unten sehen und nie nach oben, weshalb sie die Schuld auch immer bei jenen suchen, die noch schwächer und hilfloser sind als sie selbst.
Die Misere und Hoffnungslosigkeit des Dorfes fängt Loach gekonnt ein, verzichtet aber weitgehend auf weite Panoramen und Ausblicke in die idyllische Landschaft, die vermutlich jenseits der Mauern wartet. Denn er konzentriert sich auf die Lebenswirklichkeit der Menschen, die wie gefangen sind zwischen den Backsteinmauern und den Überresten der alten Minen. Nur selten öffnet sich der Blick, dann meist hinaus aufs Meer, das nicht weit ist, aber auch keine Freiheit verspricht, es sei denn die Freiheit, die im Tod durch Ertrinken liegt. Ein weiterer Ausflug führt TJ und Yara in die Kathedrale von Durham, in der die junge Frau die Schönheit bewundert, die sie jedoch in erster Linie an das erinnert, was sie verloren hat: ihre Heimat.
Die Geschichte der Flüchtlingsfamilie um Yara, ihre Mutter und Geschwister, wird in einem zweiten Handlungsstrang erzählt, aber insgesamt oberflächlicher. Man erfährt ein wenig über ihre Vergangenheit und den Vater, der in einem syrischem Gefängnis sitzt, was sie aber erst im Verlauf des Films erfahren. Hier hätte Loach ruhig noch mehr ins Detail gehen und die Schicksale der Flüchtlinge aufarbeiten können. Auch das Tempo ist sehr gemächlich wie man es von einem Filmemacher seiner Generation erwarten kann.
Die Botschaft, die der Film am Ende vermittelt, kann man mit Erich Kästners berühmten Epigramm zusammenfassen: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. So wie TJ, dieser stille Held des Alltags, dessen zerbrechliches Glück an einem kleinen Hund hängt und der widerstrebend Yara und den anderen Frauen hilft, eine Armenküche auf die Beine zu stellen, damit wieder Leben in den wie gelähmt erscheinenden Ort einkehrt. Das alles ist sehr schön erzählt, und für einen Moment keimt tatsächlich Hoffnung auf, aber dann schlägt das Schicksal erneut zu.
The Old Oak ist ein unendlich trauriger Film, in dem selbst die Bösewichter zutiefst menschlich gezeichnet werden. Im Grunde sind alle Opfer, und Erlösung von Schmerz und Verzweiflung liegt allein in der Gewissheit, dass wir nicht alleine sind, sondern Teil einer größeren Gemeinschaft mitfühlender Wesen. Vielleicht gibt es für Großbritannien keine Hoffnung mehr, vielleicht gibt es auch kein Happy End, aber, das vermittelt uns Ken Loach eindringlich mit seinem vielleicht letzten Film, solange es noch Menschlichkeit gibt, ist nicht alles verloren.
Note: 3+