Möglicherweise kannte ich die Geschichte von Christopher McCandless und seinem traurigen Ende in der Wildnis bereits, als der Film 2008 in unsere Kinos kam. Ich glaube, ich habe in der Zeitung darüber gelesen, vielleicht aber auch nur über Jon Krakauers Buch. Der Film wurde dann von der Kritik hochgelobt, konnte mich aber nicht genügend begeistern, um dafür ein Ticket zu lösen. Seither befand er sich auf meiner Watchlist, und nun dachte ich mir, die Zeit ist reif für ein bisschen Weltflucht.
Into the Wild
Als Christopher McCandless (Emile Hirsch) 1990 seinen Collegeabschluss in der Tasche hat, wollen ihm seine Eltern (Marcia Gay Harden und William Hurt) einen neuen Wagen schenken, doch der junge Mann lehnt ab, weil er sich nicht mit noch mehr Besitz belasten will. Er hat genug vom Kapitalismus, seinem strengen Vater, der seine Frau misshandelt, dem Erfolgsdruck in der Familie, die im Raumfahrtprogramm ihr Geld verdient. Statt nach Harvard zu gehen, verkauft Christopher sein Hab und Gut, spendet sein Geld und zieht los nach Westen. Er verbrennt sogar seine letzten Dollar, um ganz auf sich gestellt zu sein, und träumt vom Leben in der Wildnis. Auf seinem Weg, der ihn schließlich nach Alaska führt, trifft er die verschiedensten Menschen.
Die deutsche Sprache ist sehr erfindungsreich, wenn es darum geht, Gemütszustände zu beschreiben. Weltflucht meint vor allem ein Abwenden von der schnöden Realität und ein Eintauchen in eine Fantasywelt oder einer alternativen Realität, während Weltschmerz das seelische Leiden an der Welt beschreibt. Beide sind gerade – leider – ziemlich aktuell. Wir leben in einer Zeit, die von großer Unsicherheit und gewaltigen Umbrüchen geprägt ist, zwei Kriege toben in relativer geografischer Nähe, unsere Demokratie und die unserer Verbündeten wird von innen und außen angegriffen, der gesellschaftliche Zusammenhalt wird schwächer, das Klima kollabiert, und die Bahn ist praktisch niemals pünktlich. Nichts ist sicher, alles beginnt um uns herum einzubrechen und sich aufzulösen. Das ist schwer auszuhalten, kein Wunder, dass der Wunsch, sich weit wegzuträumen immer größer wird. Manchmal möchte man auch einfach nur weglaufen, nur wohin?
Die frühen Neunzigerjahre waren ebenfalls ein Zeitalter des Umbruchs. Die Berliner Mauer war gefallen, die Sowjetunion löste sich auf, der Kapitalismus hatte gesiegt. Für jemanden wie Christopher McCandless waren das keine guten Nachrichten. Der junge Mann misstraut dem amerikanischen System, er hält den Kapitalismus für nichts Gutes und beschäftigt sich in seinem Studium mit Afrika und dem Leiden dieses Kontinents. Mit seinem Abschluss steht auch er an einem Scheideweg, er muss sich entscheiden, was er weiter studieren, welches Leben er führen will, wer er überhaupt sein möchte. Wir alle waren einmal an diesem Punkt, manche ratlos, manche zielstrebig, aber alle geeint in der Hoffnung auf ein erfülltes, selbstbestimmtes Leben.
Christopher läuft allerdings nicht nur vor dem Kapitalismus davon oder vor der Aussicht auf ein ödes Leben als Angestellter in einer Kanzlei oder Firma, sondern vor allem vor seiner Familie. Man erfährt einiges über das Ehepaar McCandless, das viel Geld verdient hat, aber nicht glücklich wurde. Christopher und seine Schwester (Jena Malone) finden eines Tages heraus, dass der Vater noch eine weitere Familie aus einer früheren Beziehung hat, von der sie nichts wussten. Das erschüttert ihr Selbstverständnis, zumal das Verhältnis zum Vater distanziert und von Angst vor seinen Wutausbrüchen geprägt ist. Eine Familie, aufgebaut auf Lügen, zusammengehalten von brennendem Ehrgeiz, Verzweiflung und gegenseitiger Abhängigkeit, kein Wunder, dass Christopher den Kontakt abbricht.
Sean Penn, der nicht nur Regie geführt, sondern auch das Drehbuch geschrieben hat, schildert das alles nicht direkt, sondern lässt vor allem Christophers Schwester darüber berichten. Sie erklärt dem Zuschauer in langen Off-Kommentaren die Familienverhältnisse und liefert gleich ein Psychogramm ihres Bruders mit. Das ist praktisch, weil es einem das Nachdenken erspart, aber auch ein wenig nervig, weil viel gesagt, aber nur wenig gezeigt wird. Hier und da sieht man ein paar Szenen aus der Vergangenheit, die von häuslichem Missbrauch künden, aber sie wirken wie verschwommene Erinnerungen.
Weil Christophers Geschichte eine mit einem traurigen Ende ist, wollte Penn auch nicht chronologisch erzählen. Eine lange Reise in die Dunkelheit ist schwer zu ertragen, er wollte nicht den düsteren Charakter betonen, sondern den optimistischen, lebensbejahenden. Eine sehr amerikanische Einstellung. So beginnt alles mit dem Ende, mit Christophers letzten Tagen im „Magic Bus“, einem in der Wildnis gestrandeten Linienbus, der dem Aussteiger als Behausung dient, irgendwo in Alaska. Warum ihn sein Traum ausgerechnet dorthin geführt hat, weiß man nicht. Vielleicht weil es hier die wenigsten Spuren menschlicher Zivilisation gibt, vielleicht ist auch Jack London schuld.
Christopher, der sich selbst Alexander Supertramp nennt, ein bezeichnender Name, mit dem er seine frühere Identität abzustreifen versucht wie eine Schlange ihre Haut, ist ein begeisterter Leser. Er liebt nicht nur die Abenteuerromane von London, sondern auch die amerikanischen Philosophen wie Emerson und Thoreau, der mit Walden den Klassiker aller Aussteiger geschrieben hat. Ihr Einfluss und Christophers negative Kindheitserfahrungen sorgen für den Wunsch nach Einsamkeit und Abgeschiedenheit. Penn und Krakauer liefern hier ein interessantes, vielschichtiges Psychogramm.
So stimmig Christophers Charakter auch geschildert und von Hirsch dargestellt wird, das allein reicht noch nicht für einen gelungenen Film. Tatsächlich ist Into the Wild mit über zwei Stunden viel zu lang geraten und weist einen eklatanten Mangel an Dramatik auf. Man sollte meinen, dass ein junger Mann, der auf einem Kajak den Colorado River bis nach Mexiko hinunterfährt und dabei von der Polizei gejagt wird, weil er keine Genehmigung hat, der Berge besteigt und sich durch die Wildnis schlägt, einige Abenteuer erlebt hat. Doch weit gefehlt, es gibt so gut wie keine gefährlichen Situationen, keine Spannung, nur einige erfreuliche Begegnungen mit anderen Menschen.
Unterwegs trifft Christopher auf ein Aussteigerpärchen, dessen Frau (Catherine Keener) er an ihren entfremdeten Sohn erinnert, auf ein 16jähriges Mädchen (Kristen Steward), das sich in ihn verliebt, und auf einen Veteranen (Hal Holbrook), der ihn sogar adoptieren möchte. Sie alle bieten ihm eine Ersatzfamilie, Halt und Unterstützung, aber so verlockend ihre Angebote auch sein mögen, Christopher will zuerst sich selbst finden, in der Wildnis.
Dieses romantische Ideal eines asketischen Lebens in Einklang mit der Natur erinnert stark an Thoreau, nur mit dem Unterschied, dass dieser in einer Hütte lebte und nicht in einem zugigen Bus, dass er wusste, worauf er sich einlässt und darauf vorbereitet war. Dagegen ist Christopher, obwohl mit einem Gewehr, Werkzeugen und Fachliteratur über essbare Wildpflanzen ausgestattet, einfach zu naiv in seiner Annahme, für dieses Leben gerüstet zu sein, und zu radikal in der Umsetzung. Ausgerechnet Alaska, möchte man ausrufen. Aber Träumer kann man nicht aufhalten.
So endet der Film wie er enden muss, wie es die Realität diktiert. Christopher scheitert an seinem Idealismus, seiner Naivität, seinen Träumen. Am Ende steht die Erkenntnis, dass man nur glücklich sein kann, wenn man sein Glück mit anderen teilt. Das klingt verdächtig nach einem Kalenderspruch, und man fragt sich, ob er für diese Einsicht wirklich in die Wildnis hätte gehen müssen. Ist er wirklich ein Träumer, der trotz allem sein Glück findet, wie der Film suggeriert, oder ein gescheiterter Aussteiger, der unbedacht sein Leben wegwirft? Und muss der Zuschauer dafür wirklich 148 Minuten seiner Zeit investieren? Die Antwort muss jeder für sich finden.
Insgesamt kein schlechter Film, nur viel zu lang und zu vorhersehbar, mit zu wenig Dramatik und emotionaler Tiefe.
Note: 3-