Als der Roman vor einigen Jahren auch bei uns die Bestsellerlisten eroberte, wurde vor allem die bildgewaltige Sprache der Autorin gelobt, die mit präzisen Beschreibungen der Natur und einer spannenden Story unzählige Leser*innen überzeugte. Auch ich war ein wenig neugierig, nur ist mein SuB (Stapel ungelesener Bücher) inzwischen höher als der Turm zu Babel, weshalb ich mit dem Erwerb des Romans gewartet habe. Dann kam die Verfilmung in unsere Kinos und überraschte mich: Hatte ich ein Südstaaten-Familiendrama à la Herr der Gezeiten erwartet, versprach der Trailer eher einen Gerichtsfilm mit Liebesgeschichte.
Im Kino habe ich ihn leider verpasst, weil ich im Urlaub war, aber nun konnte ich ihn auf Wow nachholen.
Der Gesang der Flusskrebse
Als die Leiche des Quarterbacks Chase Andrews (Harris Dickinson) am Fuß eines Feuerwachturms gefunden wird, sind sich die Behörden zunächst nicht sicher, ob er Opfer eines tragischen Unfalls oder ermordet wurde. Doch das Fehlen von Fingerabdrücken und auffällige rote Fasern an seiner Kleidung legen Fremdverschulden nahe, weshalb die Polizei die als Marschmädchen bekannte Kya Clark (Daisy Edgar-Jones) verdächtigt, mit der Chase eine Affäre hatte. Als bei ihr eine rote Mütze gefunden wird, klagt man sie wegen Mordes an. Der Anwalt Tom Milton (David Strathairn) nimmt sich des Falls an und lässt sich von Kya ihre Lebensgeschichte erzählen, die von Missbrauch und Vernachlässigung geprägt ist.
Wenn eine Zoologin einen Roman schreibt, braucht man sich nicht zu wundern, wenn es in der Geschichte ausführlich um Naturbeschreibungen, um die Flora und Fauna der Umgebung geht, in der die Story angesiedelt ist. So spielen das Marschland von Carolina und die Sümpfe eine große Rolle. Polly Morgans Kamera fängt diese auch auf pittoreske Weise ein. Hinzukommen Kyas Zeichnungen, die der Figur später ein Auskommen als Sachbuchautorin ermöglichen.
Weite Strecken des Films geht es aber weniger um den Prozess, sondern um Kyas Kindheit und Jugend. Die Gewaltausbrüche des Vaters (Garret Dillahunt) werfen dabei einen dunklen Schatten auf die ansonsten idyllische Kindheit des Mädchens. So verlässt zuerst die Mutter die Familie, gefolgt von den älteren Geschwistern, bis nur noch Kya zurückbleibt. Eines Tages verschwindet aber auch ihr Vater, und von da an muss sich das Kind wie eine dickensche Waise allein durchschlagen. Sie lebt vom Verkauf von Muscheln an den afroamerikanischen Händler Jumpin (Sterling Macer Jr.), der zu einer Art Ersatzvater für sie wird, und versteckt sich vor dem lokalen Jugendamt, das sie in ein Heim stecken will.
Als Teenagerin verliebt sich Kya dann in Tate (Taylor John Smith), der ihr Interesse an Biologie fördert, sie aber schließlich im Stich lässt, als er sein Studium beginnt. Das Thema des Verlassenwerdens ist zu diesem Zeitpunkt bereits bestens etabliert, hat Kya in ihrem jungen Leben nichts anderes erfahren müssen. Man kann das Bedürfnis der an sich schon sehr introvertierten Kya, sich vor der Welt zu verstecken, gut nachvollziehen, und auch ihre Sozialisation durch das Beobachten von tierischem Verhalten macht in diesem Zusammenhang Sinn. Die Natur kennt keine Moral, konstatiert sie angesichts der Grausamkeit, den manche Spezies an den Tag legen.
Insofern kommt die schüchterne Kya als Mörderin durchaus in Betracht, was die Spannung des Gerichtsdrama signifikant erhöht. Bis zuletzt bleibt alles in der Schwebe, weiß man als Zuschauer nicht, ob es tatsächlich ein Unfall oder ein Mord war und ob Kya oder vielleicht ein Dritter als Täter in Frage kommen. Erst ganz am Ende wird das Rätsel gelöst.
Wenn man – wie ich – den Roman nicht kennt, kann man nur die Adaption beurteilen, nicht aber, ob diese wirklich gelungen ist. Es scheint jedoch, als halte sich das Drehbuch von Lucy Alibar dicht an der Vorlage von Delia Owens. Die Story selbst ist allerdings ein wenig klischeehaft mit der Darstellung der dysfunktionalen Familie, die aufgrund ihrer Armut außerhalb der Gesellschaft steht. Auch der gewalttätige, trunksüchtige Vater kommt in diesem Zusammenhang viel zu oft als Figur vor.
Nicht unproblematisch ist auch die Schilderung der Liebegeschichten oder, wenn man so will, der Dreiecksgeschichte, denn Tate kehrt nach langer Abwesenheit zurück, als Kya bereits ein Verhältnis mit Chase hat. Die beiden jungen Männer, der aufrichtige, naturnahe Tate und der arglistige, dominante Chase, erscheinen dabei wie Figuren aus einer Seifenoper. Immerhin trauen die Autorinnen Kya so viel Autonomie und gesunden Menschenverstand zu, dass die Story nicht zu seicht wird.
Alles in allem ist Der Gesang der Flusskrebse eine solide inszenierte, mit hübschen Landschaftsaufnahmen geschmückte Love-Crime-Story und ein passables Coming-of-Age-Drama, das zwar weder übermäßig spannend noch emotional packend ist, einen aber auch nicht langweilt. Wem das zu wenig ist, sollte sich noch einmal Herr der Gezeiten anschauen.
Note: 3