The Unforgivable

Das US-amerikanische Justizsystem ist ja für seine geradezu alttestamentarische Härte und Ungerechtigkeit bekannt – und für seine Showelemente. Vor Gericht geht es, wie in Hollywood, vor allem darum, wer die bessere Geschichte erzählt und die Zuschauer und Juroren damit für sich einnimmt, und statt auf Resozialisierung setzt man bevorzugt auf brutale Abschreckung.

Die Zahl der Justizdramen in Film und Fernsehen sind daher Legion und allemal unterhaltsamer als alles, was hierzulande produziert wird. Doch The Unforgivable ist kein klassischer Gerichtsfilm, sondern handelt von der Zeit nach der Haftentlassung und die Folgen, die ein Verbrechen für alle Beteiligten hat.

Vor einigen Wochen habe ich die thematisch verwandte Serie Back to Life auf Arte ansehen wollen, aber nach drei Folgen abgebrochen, weil sie so langweilig war. Auch dieser Film stand lange auf meiner Watchlist, und ich hatte eigentlich nie große Lust, ihn mir anzuschauen, sah der Trailer doch eher dröge aus. Ein Freund von mir hat ihn mir jedoch glühend empfohlen (als riesiger Sandra-Bullock-Fan ist er allerdings ein klein wenig voreingenommen), und an einem verregneten Abend habe ich ihm nun eine Chance gegeben.

The Unforgivable

Nach 20 Jahren Haft für den Mord an einem Sheriff wird Ruth (Sandra Bullock) aus der Haft entlassen. In Seattle versucht sie, ein neues Leben zu beginnen, sucht sich einen Job und würde gerne ihre bedeutend jüngere Schwester Katie (Aisling Franciosi) wiedersehen, die nach ihrer Verhaftung von Michael (Richard Thomas) und Rachel (Linda Emond) adoptiert wurde. Inzwischen ist sie erwachsen, kann sich an die traumatischen Erlebnisse ihrer Kindheit nicht mehr erinnern, wird aber immer noch von Alpträumen geplagt. Der Neuanfang ist für Ruth alles andere als leicht, denn als „Cop-Killerin“ wird sie besonders hart von den Kollegen angegangen, und die Söhne des getöteten Sheriffs, Keith (Tom Guiry) und Steve (Will Pullen), sinnen auf Rache.

Der Film ist das Remake einer britischen Fernsehserie, wurde u.a. von Sandra Bullock und Veronica Ferres produziert und von der deutschen Regisseurin Nora Fingscheidt inszeniert. Bei uns lief die Produktion zwar kurz im Kino, hat dort aber keinen nennenswerten Erfolg verzeichnen können und kam schließlich zu Netflix. Derselbe Film hätte vor zwanzig oder dreißig Jahren mit Sandra Bullock in der Hauptrolle vermutlich das Zeug zum Kassenschlager gehabt (oder wäre im schlimmsten Fall mit Ashley Judd zu einem Thriller-Melodram verwurstet worden). So ändern sich die Zeiten.

Die Geschichte von Ruths Rückkehr in die Gesellschaft ist ein steiniger und erinnert an klassische Außenseiterdramen. Resozialisierung scheint in den USA ein unbekannter Begriff zu sein, denn nahezu jeder begegnet Ruth mit Ablehnung und teilweise sogar offenem Hass. Als verurteilte Mörderin, die ihre Strafe abgeleistet hat, ist sie trotz allem ein Mensch zweiter Klasse, dem kaum ein Existenzrecht zugebilligt wird. In manchen Szenen ist das beklemmend, beinahe unerträglich, und dass Ruth einen Gesetzeshüter auf dem Gewissen hat, macht die Tat für viele buchstäblich unverzeihlich.

Doch Ruth ist eine Frau, die selbst zugibt, dass sie niemals aufgibt. Alles, was sie will, ist, etwas über kleine Schwester zu erfahren, die vom Gericht durch ein Kontaktverbot vor ihr geschützt wurde. Obwohl sie inzwischen längst erwachsen ist, wollen ihre Adoptiveltern nach wie vor verhindern, dass sie Ruth, an die sie nur verschwommene Erinnerungen hat, wiedersieht. Im Kampf um ein Treffen erhält Ruth zögerliche Unterstützung von einem Anwalt (Vincent D’Onofrio), muss aber gegen ein System kämpfen, das einer Frau wie ihr keinerlei Rechte zugestehen will oder ihr die wenigen, die sie hat, verweigert. Gerade diese Ungerechtigkeit, gekoppelt mit dem einfachen, zutiefst menschlichen Verlangen nach einer Familie, sorgt dafür, dass man Ruth von Anfang an ins Herz schließt.

Über weite Strecken funktioniert der Film wie eine Milieustudie oder ein Sozialdrama. Sandra Bullock spielt Ruth weitgehend ungeschminkt als verhärmte, vom Leben gezeichnete Frau, die alle Anfeindungen meist stoisch über sich ergehen lässt. Nur beim Kampf um Katie zeigt sie Leidenschaft und eine raubtierhafte Wildheit, die geradezu aus ihr herausbricht, was nicht immer klug ist, aber verständlich.

Das Thema des Films sind die unsichtbaren Wunden der Vergangenheit, die einfach nicht verheilen können. Irgendwann einmal sagt Ruth, dass das Leben weiter gehe, obwohl sie selbst nicht daran glaubt. Denn die Erinnerungen an die Ereignisse von vor zwanzig Jahren lassen weder sie noch alle anderen Beteiligten los. Sowohl Katie als auch die Kinder des toten Sheriffs spüren jeden Tag die Verwerfungen, die diese Tat ausgelöst hat. Ironischerweise ist es aber dieser banale Satz vom Leben, das weitergeht, der die verhängnisvolle Entwicklung auslöst. Und plötzlich wandelt sich der Film zu einem Rachethriller, der zwar etwas unmotiviert erscheint und recht vorhersehbar verläuft, aber durchaus seine spannenden Momente hat.

Als Zuschauer wird man lange Zeit im Dunkel gelassen, was die Ereignisse von vor zwanzig Jahren betrifft. Schon in die ersten Szenen, die von Ruths Entlassung handeln, mischen sich allerdings kurze Rückblenden, die später immer länger werden und die Geschichte der beiden Schwestern und des toten Sheriffs erzählen. Und gerade, wenn man glaubt, man weiß, was damals geschehen ist, kommt es zu einem überraschenden Twist.

Obwohl das Tempo eher gemächlich ist und man in der ersten Hälfte weitgehend auf Ruth und ihre Bemühungen zurückgeworfen wird, wieder Fuß in einer feindseligen Gesellschaft zu fassen, treten kaum Längen auf. Das ist vor allem Bullocks Verdienst, die ein eindrucksvolles Porträt abliefert.

In der zweiten Hälfte gerät die Story dann in altbekannte Fahrwasser. Fingscheidt spult sie routiniert und wenig inspiriert ab und lässt ausgerechnet im Finale an der nötigen Suspense missen. Das ist schade, denn das Potential wäre durchaus vorhanden gewesen.

Kein klassischer Thriller, sondern mehr ein packendes Sozialdramamit ordentlicher, zum Ende hin aber zu schwachen Inszenierung und hervorragend gespielt. Für die heutige Zeit ist das schon eine Ausnahme.

Note: 2-

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.