The Innocents

Oktober und November sind die geeignetsten Monate, um sich zu gruseln. Die Tage werden kürzer, der Himmel ist oft grau und wolkenverhangen, und an den Abenden kriecht einem Grabeskälte in die Knochen. Mit Halloween nächste Woche gibt es sogar den passenden Feiertag dazu, zumindest in den angelsächsischen Ländern, und daher wird es Zeit, die Horrorfilme vorzustellen, die ich in den letzten Wochen gesehen habe.

Grundsätzlich mag ich Horrorfilme, das Problem ist nur, dass es fast keine gibt, die qualitativ so gut sind, dass man sie sich anschauen möchte. Außerdem wimmeln sie meist vor Stereotypen und Klischees. Daher habe ich mal den Blick über den Tellerrand Hollywoods hinaus gewagt und mir zwei Produktionen aus Skandinavien ausgesucht.

The Innocents, der in unsere Kinos kam, als mit der Pandemie noch unser eigener, ganz alltäglicher Horror tobte, kann man bei Prime Video finden.

The Innocents

Die neunjährige Ida (Rakel Lenora Fløttum) zieht mit ihren Eltern und ihrer älteren, autistischen Schwester Anna (Alva Brynsmo Ramstad) in eine Hochhaussiedlung am Stadtrand. Dort lernt sie Ben (Sam Ashraf) kennen, der über telekinetische Fähigkeiten verfügt, und Aisha (Mina Yasmin Bremseth Asheim), die mit Anna mittels Gedankenkraft kommunizieren kann. Nur Ida kann an sich keine besonderen Fähigkeiten entdecken. Gemeinsam testen die Kinder ihre neu erwachten, immer stärker werdenden Kräfte, geraten dabei aber in einen Konflikt untereinander.

Aus großer Macht erwächst große Verantwortung? Spider-Man hat diesen Satz berühmt gemacht und zum Credo der Superhelden erhoben, aber schon sehr lange stellt sich die Frage, was passiert, wenn große Macht nur dazu verführt, sie zu missbrauchen. Die dunkle Seite ist verführerisch, dazu braucht man sich nur das Schicksal von Anakin Skywalker anzuschauen oder das eines der vielen Schurken in den Superheldenfilmen.

Auch die Frage, was passiert, wenn Kinder oder Jugendliche plötzlich über paranormale Kräfte verfügen, wurde schon häufiger im Film gestellt, so gab es vor einigen Jahren mit Chronicle – Wozu bist du fähig? eine amerikanische Produktion, die eine ähnliche Story mit etwas älteren Protagonisten erzählt hat.

The Innocents geht als skandinavisches Produkt jedoch andere künstlerische Wege. Autor und Regisseur Eskil Vogt erzählt dicht an der Realität, er wählt fast einen dokumentarischen Ansatz, indem er die Ereignisse aneinanderreiht, ohne sie dramatisch groß zu überhöhen, und verzichtet auch sonst auf den üblichen Hollywood-Bombast. Dennoch gelingt es ihm, eine beklemmende Atmosphäre zu kreieren, die sich vor allem in der zweiten Hälfte mit Spannung auflädt.

Leider ist die erste Hälfte umso langsamer und behäbiger. Ida erscheint zunächst als Protagonistin, die man als Zuschauer von der ersten Minute an unsympathisch findet. Sie quält ihre hilflose Schwester, zwickt sie, steckt ihr Glasscherben in die Schuhe und wirkt überhaupt wenig empathisch. Als sie Ben kennenlernt, verschlimmern sich diese psychopathischen Tendenzen sogar noch, und die beiden töten gemeinsam Aishas Katze. Doch Ida ist von diesem Gewaltakt so schockiert, dass sie sich langsam zu verändern beginnt. Nicht zuletzt dank Aishas mitfühlender Art verändert sich sogar Idas schwieriges Verhältnis zu Anna, deretwegen sie immer wieder zurückstehen muss. Das ist recht einfühlsam erzählt und von den Kinderdarstellern hervorragend gespielt.

Ein Schwachpunkt ist der Mangel an Klarheit und Eindeutigkeit, wenn es um die Kräfte der Kinder geht. Eine Erklärung, woher diese stammen, braucht es nicht, aber es wäre sinnvoll gewesen, sie genauer zu definieren. So kann Benn anfangs Objekte mit Gedankenkraft bewegen, kurz darauf aber schon Menschen wie Marionetten fernsteuern. Das geschieht so rasch und unvermittelt, dass es willkürlich wirkt. Auch ist nie ganz klar, inwieweit die vier Kinder sich gegenseitig beeinflussen oder ihre Kräfte verstärken.

Mit Ben erwächst der Geschichte ein Superschurke, der psychologisch weitgehend stimmig erzählt wird, dessen Aktionen aber wenig durchdacht und daher willkürlich wirken. Eine stärkere Konzentration auf die Figur hätte der Geschichte sicherlich gutgetan, vor allem in Bezug auf ihre Handlungen, die bisweilen unverständlich oder zumindest übertrieben wirken. Auch ein tieferer Blick in seine Gedankenwelt wäre wünschenswert gewesen. Nicht nur Ben, sondern auch die anderen akzeptieren ihre Kräfte als etwas völlig Normales, und es scheint auch nicht, als würde sich ihr Selbstverständnis dadurch ändern. Für sie ist es im Grunde nur ein Spiel.

Wie gesagt, erst in der zweiten Hälfte kommt ein wenig Spannung auf, wenn Ben sich gegen die anderen wendet, und nur Anna ist in der Lage, sich ihm entgegenzustellen. Daraus hätte Hollywood einen packenden Horrorthriller gemacht, aber Vogt setzt weder auf das große Drama noch auf Schauwerte. Sogar der Showdown ist weitgehend actionfrei und antiklimaktisch. Schade, daraus hätte man viel mehr herausholen können.

Note: 3-

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.