New Order – Die neue Weltordnung

Von diesem Film hatte ich noch nie gehört, bis er auf der Liste der Produktionen auftauchte, die demnächst von Prime Video verschwinden. Dabei wurde er in Venedig mit dem Silbernen Löwen ausgezeichnet, was ich vermutlich gelesen und dann wieder vergessen hatte. Sein Regisseur Michel Franco war bislang mit all seinen Filmen auf den diversen Festivals dieser Welt vertreten und ist dem breiteren Publikum vielleicht durch den Arthausfilm Chronic mit Tim Roth bekannt.

Obwohl der imdB-Wert von New Order mit 6,5 nur mittelmäßig ist, wollte ich der Story eine Chance geben, denn der Trailer zu dieser Dystopie sah nicht schlecht aus.

New Order – Die neue Weltordnung

Marianne (Naian González Norvind) feiert im Haus ihrer reichen Eltern Hochzeit. Viele Verwandte sind eingeladen, aber auch einflussreiche Freunde ihres Vaters, der in der Baubranche tätig ist. Als ein ehemaliger Angestellter auftaucht, um die Familie um Geld für seine schwerkranke Frau zu bitten, wird er von den Eltern mit einem Bruchteil der Summe weggeschickt. Nur Marianne hat Mitleid und folgt ihm nach Hause, obwohl in der Stadt schwere Unruhen herrschen. Gleichzeitig wird die Hochzeitsgesellschaft von bewaffneten Aufständischen überfallen.

Dystopische Filme über den Zusammenbruch der Gesellschaft gibt es einige, erstaunlich viele haben mit Seuchen zu tun, die relativ oft Zombies hervorbringen, andere mit Aliens, was vermutlich noch weniger realistisch ist. Aber wir sprechen hier von Mainstream-Filmen, die den Anspruch erheben, unterhaltsam zu sein. Dabei braucht man sich nur umzuschauen und kann sich andere Gründe für den Zusammenbruch einer Gesellschaft denken, die entweder mit politischen Unruhen zu tun haben oder mit geopolitischen Veränderungen, etwa aufgrund des Klimawandels. Auch diese Filme gibt es, aber sie sind eher im Arthausbereich verortet. Wie New Order.

Franco, der auch das Drehbuch schrieb, wirft einen genauen Blick auf die mexikanische Gesellschaft und betont die gravierenden Unterschiede zwischen einer kleinen, reichen Oberschicht und der breiten, verarmten Masse. 60 Millionen werden im Film genannt, was ungefähr der Hälfte der Gesamtbevölkerung entspricht. Wenn das halbe Land arm und unzufrieden ist, kann man von einem Pulverfass sprechen. Dafür braucht man sich nur gerade Argentinien anzuschauen.

Die Geschichte beginnt bei denen, die alles haben. Die Villa der Familie ist modern und luxuriös ausgestattet, Heerscharen von Angestellten kümmern sich um alle Belange, und man feiert ausgelassen die Brautleute. Marianne genießt dieses unbekümmerte Leben, ist aber scharfsinnig genug, um zu wissen, dass der Reichtum auch dank Korruption erworben wurde. So funktioniert das System nun einmal.

Die Aufstände auf den Straßen kommen lange Zeit nur am Rande vor. Eintreffende Gäste erzählen von Straßenblockaden, manche werden mit grüner Farbe attackiert, der Farbe der Bewegung, die plötzlich auch aus einem Wasserhahn im Bad sprudelt. Für die Reichen ist all das nur ein kleines Ärgernis, das man nicht weiter wichtig nimmt.

Wirklich nahe kommt man dabei allerdings keiner Figur. Der Stil mutet dokumentarisch an, die Kamera bleibt distanziert und verweilt kaum länger als ein paar Sekunden bei einer der vielen Figuren, die sich zumeist über Belanglosigkeiten unterhalten. Wirkliche Nähe kann so nicht entstehen. Dramatik kommt erst auf, als die Villa von den Aufständischen gestürmt wird. Die Angestellten verbrüdern sich mit ihnen, rauben und plündern, zerstören die Möbel und Kunstwerke und töten etliche Gäste. Aber auch das wird eher beiläufig erzählt, viele Grausamkeiten wie der Mord an einer Schwangeren sogar nur im Off. Dieser plötzliche Einbruch von Gewalt und Zerstörung ist verstörend und eindringlich, läuft aber letzten Endes ins Leere, weil man zu wenig über die Hintergründe weiß und, viel wichtiger, keine Beziehung zu den Getöteten aufgebaut hat.

Auch die Gegenseite wird nicht personalisiert. Franco schildert keine einzige Geschichte von einem der Aufständischen, er beschreibt nicht die Verzweiflung, Not und Frustration, die zum Gewaltausbruch führen. Es ist einfach nur ein sinnloser Akt von Gewalt von einer gesichtslosen, anonymen Masse.

Die einzige Figur, die man den Armen zurechnen kann, der aber ein gesetzestreuer Bürger ist, ist Rolando (Eligio Meléndez), der um das Leben seiner Frau bangt. Zu Beginn des Films wird sie aus dem Krankenhaus geworfen, weil man die Betten für verletzte Demonstranten braucht, eine Privatklinik ist ihre einzige Rettung, und nur die Familie, für die das Ehepaar früher einmal gearbeitet hat, kann ihm helfen. Die Ironie der Geschichte ist, dass Marianne ihn zwar unterstützen will, von den Männern ihrer Familie aber weitgehend daran gehindert wird und daher Rolando folgt. Sie gerät daraufhin in eine Straßenschlacht und wird später von einer versprengten Einheit des Militärs entführt, die wahllos Mitglieder der Oberschicht verschleppt, um Lösegelder zu kassieren.

An dieser Stelle macht die Geschichte dann unvermittelte Zeitsprünge. Es vergehen Tage, später Wochen, und langsam kristallisiert sich heraus, was mit der titelgebenden neuen Ordnung gemeint ist: eine Militärdiktatur. Auch hier wird wieder zu wenig erklärt, man rätselt, wer die Entführer sind und warum sie keinen Kontakt zu den Familien aufnehmen. Dieses unorganisierte, chaotische Vorgehen mag vielleicht realistisch sein, dramatisch ist es aber nicht.

Dabei hat man mit Marianne durchaus eine sympathische Identifikationsfigur, der man durch die Geschichte folgen könnte. Sie muss einiges erleiden, wird gedemütigt und vergewaltigt und sieht mit an, wie die Soldaten andere Gefangenen brutal foltern. Das könnte eindringlich und verstörend sein, wenn Franco auch hier nicht die gleiche Distanz einsetzen würde wie am Anfang. Marianne wird zur Nebenfigur degradiert, sie bekommt keinen einzigen Dialog mehr, man erfährt fast nichts über ihre Gefühle und Gedanken über das Offensichtliche hinaus. Naian González Norvind rettet viel durch ihr großartiges Spiel, kann aber die eklatanten Schwächen des Drehbuchs nicht ausbügeln.

Parallel sieht man Mariannes Familie, die einen befreundeten General einschaltet, um die Verschleppte zu finden. Die Reichen haben sich inzwischen in luxuriösen, schwer bewachten Wohngebieten zurückgezogen, Gefangene wie die Armen, die unter Ausgangssperren und der Willkür der Soldaten leiden.

Eine weitere, wichtige Rolle spielen noch die Haushälterin Marta (Mónica del Carmen) und ihr Sohn Christian (Fernando Cuautle), der Marianne zu Rolando begleiten will und Zeuge ihrer Entführung wird. Seine Hilfsbereitschaft wird später dafür sorgen, dass er zwischen die Fronten gerät. Das Ende ist düster, sehr düster.

Eigentlich ist es eine spannende Geschichte, die von gesellschaftlichen Missständen, verzweifeltem Aufbegehren und Unterdrückung handelt. Ihr Verlauf ist nachvollziehbar und weist Parallelen zu verschiedenen historischen Ereignissen in Mittel- und Südamerika auf. Auch ist es interessant, dass einmal ein politischer Ansatz für eine Dystopie gewählt wurde, der aufgreift, was wir an aktuellen Entwicklungen überall auf der Welt gerade verfolgen können. Soziale Unruhen, gesellschaftliche Spaltung, eine immer größer werdende Kluft zwischen Reich und Arm sind Themen, die uns tagtäglich beschäftigen. Und doch gelingt es Franco nicht, daraus einen kohärenten Film zu machen.

Ich kann den Anspruch des Filmemachers, möglichst nah an der Realität zu erzählen, nachvollziehen, verstehe aber nicht die Abkehr von den Regeln der Dramaturgie. Ist es nicht wichtiger, möglichst viele Zuschauer zu erreichen, was vor allem gelingt, wenn man eine Geschichte über ihre Figuren erzählt? Warum zeigt man brutale Gewalt und verzichtet gleichzeitig auf eine emotionale Beteiligung der Zuschauer? Will man die Leute gleichzeitig schockieren und schonen?

New Order erzählt von gewalttätigen gesellschaftlichen Unruhen, die niedergeschlagen werden und zu einer nicht minder brutalen Militärdiktatur führen. Wie man es schon häufiger auf dem Kontinent beobachtet hat. So weit, so wenig neu. Aber Franco geht dabei nicht den Gründen für den Aufstand auf den Grund, er gibt weder den Rebellen noch dem Militär ein Gesicht, sondern nur den Reichen und einigen ihrer treuen Angestellten, die auf ehrliche Weise ums Überleben kämpfen, aber nie eine Chance erhalten. Viele Aspekte werden dabei nicht genannt, zum Beispiel warum ausgerechnet Grün (das man gemeinhin mit dem Islam assoziiert) die Farbe der Revolution ist. Anderes bleibt viel zu vage, wird nur angedeutet, aber nicht ausgesprochen oder in Handlung übersetzt. Das Resultat ist eine uneinheitliche Geschichte mit schwachen Figuren, denen man nie emotional nahe kommt. Und was will Franco eigentlich erzählen, was wir alle nicht längst wissen?

Note: 4+

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.