Quis leget haec? Wer soll (all) das lesen? Dieser Stoßseufzer aller Bücherliebhaber (und vermutlich auch der Bücherhasser) stammt von Aulus Persius Flaccus und ist bereits zweitausend Jahre alt, aber angesichts der rund siebzigtausend jährlichen Neuerscheinungen allein auf dem deutschen Buchmarkt aktueller denn je. Wer soll das alles lesen? Ganz zu schweigen von den Neuerscheinungen des letzten oder vorletzten Jahres oder den Klassikern der Weltliteratur.
Manche Romane sollte man allerdings tatsächlich gelesen haben, und dazu zählen mindestens zwei Werke der Brontë-Schwestern: Sturmhöhe und Jane Eyre. Und nein, es reicht nicht, sich eine der vielen Verfilmungen anzuschauen.
Über die Geschwister ist gemeinhin nicht viel bekannt, sie führten ein beschauliches Dasein als Kinder eines Pfarrers in Yorkshire und veröffentlichten einige herausragende Romane des 19. Jahrhunderts. Daher war ich neugierig, als ein Bio-Pic über Emily Brontë in die Kinos kam – wo ich es glatt verpasst habe. Nun ist es bei Prime Video zu sehen.
Emily
Emily (Emmy Mackey) lebt mit ihrem Vater (Adrian Dunbar), ihren Schwestern Charlotte (Alexandra Dowling) und Anne (Amellia Gething), ihrem Bruder Branwell (Fionn Whitehead) und ihrer Tante (Gemma Jones) im Pfarrhaus von Haworth. Aufgrund ihrer Schüchternheit und Verträumtheit gilt sie als Außenseiterin und wird in den Augen der Dorfbewohner als sonderlich bezeichnet. Vor allem Branwell steht ihr nahe, übt aber auch einen negativen Einfluss auf sie aus, indem er sie zum Trinken verführt und mit Opium in Kontakt bringt. Emily wünscht sich vor allem, von ihrem Vater mehr beachtet zu werden und die Liebe zu erfahren, die er Charlotte und ihrem Bruder entgegenbringt. Eines Tages verliebt sie sich in den neuen Vikar Weightman (Oliver Jackson-Cohen), und diese leidenschaftliche Liebesgeschichte inspiriert sie zu ihrem Werk.
Sturmhöhe erschien ungefähr ein Jahr vor Emilys frühem Tod mit nur dreißig Jahren und wurde von vielen Kritikern abgelehnt, weil die dargestellten Figuren kein moralisch einwandfreies Verhalten an den Tag legen, verkaufte sich aber dennoch sehr gut. Es war vermutlich die leidenschaftliche, aber letzten Endes tragische und sogar zerstörerische Liebesgeschichte, die sie in den Bann zog. Als einige Zeit nach ihrem Tod publik wurde, dass hinter dem männlichen Pseudonym eine junge Frau steckte, schossen die Spekulationen ins Kraut. Wie kann eine unschuldige Pfarrerstochter so eloquent über Verderbtheit, Wahnsinn und Leidenschaft schreiben, ohne dies selbst erlebt zu haben? Ihre Schwester Charlotte versuchte, Emily als naive Maid vom Lande darzustellen, was ebenfalls nicht ihrem Naturell entsprach, aber immerhin zur Verbesserung ihres Images beitrug. Die Regisseurin Frances O’Connor, die auch das Drehbuch schrieb, hat sich in Emily nun an einer zeitgenössischen Neuinterpretation versucht.
Die historische Emily scheint kein einfacher Mensch gewesen zu sein, sie wird als willensstark und selbstbewusst bis hin zur Halsstarrigkeit beschrieben, als äußerst zurückhaltend und distanziert, obwohl sie auch einnehmend und charmant sein konnte. O’Connor und die Hauptdarstellerin Emma Mackey fangen diese Charakterzüge sehr gut ein. Ihre Emily ist eine starke, junge Frau, die nach einem Platz im Leben sucht, zu einer Zeit, in der Frauen nicht viele Möglichkeiten hatten. Eine Form der Unabhängigkeit war, als Lehrerin zu arbeiten, und so geht Emily zuerst an ein Internat, wo es ihr nicht gefällt, und später mit ihrer Schwester Charlotte nach Brüssel. Wirklich glücklich und frei ist sie aber nur in der wilden Heidelandschaft ihrer Heimat. Die Art, wie O’Connor die Landschaft Yorkshires einfängt, ist gut gelungen, dank der wunderschönen Aufnahmen von Nanu Segal, aber gerade den Kontrast zwischen dem wilden Heideland und der engen, frühviktorianischen Gesellschaft hätte man präziser herausarbeiten können.
Der Mensch, der ihr am nächsten steht, ist ihr Bruder Branwell, der einnehmend und witzig, leidenschaftlich und künstlerisch begabt ist, aber auch kein guter Einfluss. Emily trinkt, raucht und berauscht sich an Opium, das sie ihrem Bruder gestohlen hat, und Branwell stiftet sie zu einigen Streichen an, die sie beinahe in Schwierigkeiten bringen. Aber er inspiriert sie auch dazu, selbständig zu denken, und wie er schreibt sie sich die Worte „Freedom of Thoughts“ auf ihren Unterarm. Branwell selbst sieht sich als Künstler, scheitert aber an der Kunstakademie und verfällt immer mehr dem Alkohol.
Weightman ist Branwells charakterliches Gegenstück, ein nachdenklicher, hoch gebildeter und sittenstrenger Geistlicher, den Emily jedoch wegen seines guten Aussehens anziehend findet. Als ihr Vater ihn als Nachhilfelehrer für sie engagiert, geraten die beiden rasch aneinander. Emily zeigt, dass sie eine eigene Meinung hat und diese auch vertreten kann, scheitert aber zunächst an ihren Bildungslücken und seiner Eloquenz.
Zu sehen, wie Emily im Verlauf der Geschichte immer stärker, eigenständiger und selbstbewusster wird, ist sehr gut erzählt. Auch die Umkehrung der Familiendynamik ist interessant, wenn Emily schließlich über ihre spröde und einst überlegene Schwester Charlotte dominiert. Selbstverständlich kommen sich auch Emily und Weightman näher, bis hin zu einer leidenschaftlichen, verbotenen Affäre, die bei genauerem Nachdenken jedoch nicht ganz zum Vikar passt. Warum er sich nicht um sie bemüht, sie um ihre Hand bittet oder zumindest diesbezüglich bei ihrem Vater vorfühlt, erschließt sich nicht.
Weightman basiert angeblich auf einer realen Figur, die Liebesaffäre scheint aber Fiktion zu sein, und damit tappt O’Connor in die gleiche Falle wie die viktorianischen Kritiker, die einer jungen Frau zu wenig Einfühlungsvermögen und Fantasie zutrauen. Natürlich ist eine solche, tragisch endende Liebesbeziehung dramaturgisch interessanter, aber dafür nimmt sie letzten Endes zu wenig Raum ein und ist nicht vollends überzeugend.
Am Schluss verlässt O’Connor dann endgültig den Boden der Tatsachen. Nicht nur erscheint Sturmhöhe unter Emilys Namen, sie wird dafür auch noch öffentlich gefeiert, und ihr Sterben erscheint so romantisch verklärt wie in einem viktorianischen Melodram. Die reale Emily hat ihre Lungenentzündung ignoriert, ihr Leben wie gewohnt weitergeführt und sich geweigert, einen Arzt aufzusuchen. Ihre Schwester beschreibt ihr Sterben als „schreckliches Spektakel“, und dem wird der Film nun wirklich nicht gerecht. Unsinn ist auch, dass Emilys Leben und Werk erst Charlotte zum Schreiben inspiriert haben sollen, denn deren Roman Jane Eyre erschien noch vor Sturmhöhe, und Annes Agnes Grey sogar zeitgleich.
Alles in allem ist Emily ein kluges Porträt einer unangepassten, freigeistigen jungen Frau, versäumt aber, die Enge einer frauenfeindlichen Gesellschaft adäquat zu berücksichtigen, nimmt sich zu viele Freiheiten und dichtet ihr eine leidenschaftliche Liebesgeschichte an, die es sehr wahrscheinlich nicht gab. Das macht den Film zwar leichter konsumierbarer, schwächt aber gleichzeitig die Bemühungen, Emily als Vorreiterin weiblicher Selbstbestimmung zu zeigen.
Note: 3