Alles hat bekanntermaßen seine Zeit, und die der Serienmörder war vor allem in den Neunzigern. Im Kino, wohlgemerkt. Das Schweigen der Lämmer ist vermutlich der Serienmörderfilm schlechthin, an der Kasse erfolgreich und oscarprämiert, und der Profiler, der den „echten“ Hannibal Lector zur Strecke brachte und diesen Berufsstand mitbegründete, machte den Begriff populär.
Inzwischen sind Thriller im Allgemeinen und Serienmörder im Besonderen seltener geworden im Kino, weshalb Der denkwürdige Fall des Mr. Poe, in dem Edgar Allan Poe zusammen mit einem Ex-Polizisten einen Serienkiller jagt, nur einen Alibistart hatte und dann auf Netflix veröffentlicht wurde. Berühmte historische Persönlichkeiten auf Mörderhatz zu schicken, ist kein Novum, weder im Kino noch in der Literatur: Jane Austen, Oscar Wilde, Sigmund Freud und sogar Goethe und Schiller haben sich schon zwischen zwei Buchdeckeln als Detektive versucht, und zu Poe passt wenigstens die düstere Stimmung eines blutrünstigen Mordes. Immerhin hat Poe 1841 mit der Kurzgeschichte Der Doppelmord in der Rue Morgue entscheidend mit dazu beigetragen, das Detektivgenre aus der Taufe zu heben.
Der denkwürdige Fall des Mr. Poe
Im Winter 1830 wird in der Nähe der Militärakademie West Point die erhängte Leiche eines Kadetten gefunden, und die Leitung der Einrichtung betraut den ehemaligen New Yorker Polizisten Augustus Landor (Christian Bale) mit der Aufklärung des Falls. Dieser stellt bald fest, dass das Opfer ermordet wurde. Rätselhaft wird der Fall jedoch, als die Leiche geschändet und das Herz des Mannes entfernt wird. Der Kadett E.A. Poe (Harry Melling), der sich an Landor wendet, weiß, dass der Täter nur ein Poet gewesen sein kann …
Man sollte es vielleicht gleich zu Anfang erwähnen: Das Schweigen der Lämmer ist dieser Film nicht, obwohl Howard Shore in beiden Fällen die Filmmusik geschrieben hat und auch der Look des Regisseurs Scott Cooper sich an dem Meisterwerk orientiert. Die dunklen, grau-blauen Farben, die hervorragend zur Winterstimmung und dem Originaltitel Pale Blue Eyes passen, tragen zwar einiges zur düsteren Atmosphäre der Geschichte bei, die jedoch nie die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen kann.
Dabei beginnt alles recht vielversprechend: Landor ist ein gebrochener Mann, der zuerst seine Frau verloren hat und danach seine Tochter, die mit einem Verehrer durchgebrannt ist, er ist aber auch ein begnadeter Detektiv, der sofort erkennt, was dem Militärarzt (Toby Jones) bei der Leichenschau verborgen geblieben ist: Das Opfer wurde ermordet. Auch das posthume Entfernen des Herzens wirft einige Fragen auf, und die erste Spur führt dann auch zu einem okkulten Ritual.
Mit dem Auftritt von Poe kommt schließlich ein Hauch von Originalität in die Geschichte, denn der junge Kadett ist verschroben und eloquent, ein Nerd, der Poesie liebt und mit seiner toten Mutter spricht (vielmehr sie zu ihm, wenn er schläft) und überhaupt ein morbides Interesse am Tod hat. Außerdem ist er ähnlich scharfsichtig und einfallsreich wie Landor, der den jungen Mann bald unter seine Fittiche nimmt, nicht ahnend, dass gerade Poes Scharfsinn ihm gefährlich werden könnte.
Mit einem vielversprechenden Anfang und einigen interessanten Figuren könnte man meinen, dass nichts mehr schiefgehen kann. Doch dann passiert – leider zu wenig. Statt die Mördersuche mit neuen Wendungen, Enthüllungen, falschen Fährten und vielen Verdächtigen voranzutreiben, versucht sich Cooper eher an einem Psychogramm zweier unterschiedlicher Männer, das leider nur an der Oberfläche kratzt. Poe bekommt noch eine unglückliche Liebesgeschichte angedichtet, die natürlich zur Familie des Arztes führt, die letztendlich die einzigen Verdächtigen stellt.
Auch das Tempo verlangsamt sich immer weiter, bis die Story im kalten Winterhauch wie erfroren wirkt und seine Protagonisten verloren durch die karge Schneelandschaft stapfen, in der irgendwann eine zweite Leiche auftaucht. Trotz meist guter schauspielerischer Leistungen kann man sich für die Figuren nicht so recht erwärmen, und Gillian Anderson variiert einmal mehr ihre Rolle als verschrobene viktorianische Gesellschaftsdame, die immer ein wenig zu aufgesetzt wirkt.
Der Film ist, gemessen an seinem mageren Plot, auch viel zu lang, der Fall wird zwar nach neunzig Minuten von Landor in einem obskuren Showdown halbwegs zufriedenstellend gelöst, doch dann taucht in den letzten gut zwanzig Minuten noch Poe auf, um alles auf den Kopf zu stellen. Diese letzte Enthüllung ist unerwartet, sogar originell, und beantwortet so manche Frage zum Mangel an Verdächtigen und weiteren Spuren, taugt als Auflösung eines Krimis jedoch nur bedingt. Man erkennt, dass der Autor der Romanvorlage (Louis Bayard) auf diesen überraschenden Twist hingeschrieben, dabei aber wichtige Regeln der Kriminalliteratur vernachlässigt hat. Und falls im Roman mehr auf Poe, sein Werk und entsprechende Verknüpfungen zum Fall eingegangen werden sollte, hat Cooper diese sträflich vernachlässigt.
Alles in allem ein zu langsamer, mäßig spannender Krimi, der das Kunststück vollbringt, die Erwartungen zu unterlaufen und gleichzeitig überkonstruiert zu sein.
Note: 4+