Das Wunder

Diese Woche geht es um Historienfilme, Literatur(adaptionen) und berühmte Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. Vielleicht ist es dem einen oder anderen regelmäßigen Leser bereits aufgefallen, dass ich ein Faible für historische Stoffe habe und mir vieles anschaue, was es dazu auf dem Markt gibt. Sogar dann, wenn die Kritiken oder IMDb-Werte schwach sind. Beim heutigen Beitrag haben Florence Pugh, die ich sehr gerne sehe, und der Schauplatz Irland den Ausschlag gegeben, auch besaß der Trailer ansprechende Bilder, deutete aber auf ein eher gemächliches Tempo hin.

Der Film basiert auf einer Romanvorlage von Emma Donoghue, aus deren Feder auch Raum stammt, und basiert, obwohl rein fiktiv, auf einigen historisch belegten Fälle. Netflix war Co-Produzent.

Das Wunder

1862 reist die englische Krankenschwester Elizabeth Wright (Florence Pugh) nach Irland, um die elfjährige Anna (Kíla Lord Cassidy) zu betreuen, die angeblich seit vier Monaten keine Nahrung mehr zu sich genommen hat und allein von himmlischem Manna lebt. Die sehr pragmatische Elizabeth glaubt an einen Betrug und stellt sicher, dass Anna von ihrer Familie getrennt wird. Tatsächlich verschlechtert sich bald der Gesundheitszustand des Kindes, und die Krankenschwester gerät in Konflikt mit den Autoritäten, die auf ein Wunder hoffen. Zusammen mit dem Journalisten Will Byrne (Tom Burke), mit dem Elizabeth eine Affäre beginnt, sucht sie nach den Ursachen für Annas hartnäckiges Fasten.

In Irland und Großbritannien hat es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts etliche sogenannte Fastenmädchen gegeben, die sich angeblich nur von Wasser und Gebeten (oder auch Manna vom Himmel) ernährten. Manche starben sehr jung, andere wurde als Betrügerinnen entlarvt. Donoghue war von ihren Schicksalen fasziniert, wählte für ihren Roman aber eine fiktive Geschichte aus.

Es ist kein Zufall, dass diese nur wenige Jahre nach der großen Hungersnot in Irland spielt, bis heute ein nationales Trauma, das sehr viel zum Hass auf die Briten beigetragen hat. Die tragischen Geschichten aus jener Zeit spielen aber nur eine Nebenrolle. So erfährt Elizabeth beispielsweise in einer Szene, dass Byrnes Familie, die aus demselben Ort wie Anna stammt, sich zum Sterben in ihr Haus eingesperrt hat, weil sie die Schande nicht ertragen konnte, auf der Straße umzukommen. Das Elend jener Zeit ist für uns Heutige kaum vorstellbar, wird aber nur sekundär vermittelt.

Man kann dennoch gut verstehen, warum die englische Krankenschwester von den Einheimischen nicht gut behandelt wird. Elizabeth, die zusammen unter Florence Nightingale im Krimkrieg gedient hatte, gibt sich als Witwe aus, wurde in Wahrheit allerdings von ihrem Mann verlassen. Auch sonst hatte sie es nie leicht im Leben: Ihr Baby starb nach wenigen Wochen, und die Trauer lässt sie Trost im Laudanum finden. Mit eiserner Disziplin und gesundem Menschenverstand geht sie jedoch ihre Aufgaben an und widmet sich hingebungsvoll ihrem Schützling.

Man kommt den Figuren leider nicht wirklich nahe. Elizabeths eher spröde Natur und Verschlossenheit erschweren den Zugang zu ihr ebenso wie Annas übertriebene Religiosität den zu ihrer Figur. Auch die nur mäßig leidenschaftliche Affäre zwischen der Krankenschwester und dem Journalisten trägt nicht viel dazu bei, dem Film mehr Emotionalität zu verleihen. Im besten Fall hat man Mitleid mit Anna.

So plätschert nach einem nicht uninteressanten Anfang die Story lange Zeit ereignislos vor sich hin. Man sieht Elizabeth und Anna beim Spazierengehen zu, folgt ihren Gesprächen über Annas verstorbenen Bruder, über Gott und immer wieder über die Angst vor der Hölle. Im Gegensatz zu dem jungen Mädchen, das nur für das Jenseits lebt, steht Elizabeth mit beiden Beinen im Leben. Dafür stehen die vielen (zu vielen) Szenen, in denen sie energisch Essen in sich hineinstopft.

Erst im letzten Drittel gelingt es Elizabeth, zu Anna durchzudringen und die Motive für ihr Handeln aufzudecken. Hier bekommt die Geschichte endlich psychologische Tiefe und sogar in Maßen etwas Spannung, wenn die Krankenschwester den Kampf um das Leben des Kindes aufnimmt. Nur wird die Geduld des Zuschauers bis dahin auf eine harte Probe gestellt.

Wirklich unnötig und geradezu störend ist das wiederholte Durchbrechen der vierten Wand. Schon zu Beginn wird deutlich gemacht, dass es sich hier um eine Geschichte handelt, indem man die Kulissen im Studio zu sehen bekommt, und genauso endet der Film auch. Der Grund dafür ist unklar. Muss wohl Kunst sein, nervt aber nur.

Note: 3-

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.