Als der Film in unsere Kinos kam, war ich unentschlossen, ob ich ihn mir auf der großen Leinwand ansehen sollte oder nicht. Einerseits hat er mich interessiert, nicht zuletzt wegen Emma Thompson, die zu meinen liebsten Schauspielerinnen gehört, anderseits aber nicht genug, um dafür ins Kino zu gehen. Das lag nicht nur am Thema, sondern vor allem an der kammerspielartigen Umsetzung. Genau die Art von Film, auf die man ruhig noch ein paar Monate warten kann.
Inzwischen ist er schon länger bei Prime Video zu sehen, und dennoch musste man mich überreden, ihn mir anzuschauen. Zum Glück.
Meine Stunden mit Leo
Seit zwei Jahren ist die ehemalige Religionslehrerin Nancy Stokes (Emma Thompson) bereits verwitwet, als sie nun all ihren Mut zusammennimmt und den Sexarbeiter Leo Grande (Daryl McCormack) engagiert. Schon bei ihrer ersten Begegnung macht sie ihm klar, dass sie noch nie einen Orgasmus hatte und auch keinen zu bekommen erwartet, aber sie sehnt sich nach Intimität und Nähe. Leo versucht, ihr die Ängste zu nehmen, und die beiden beginnen langsam, sich zu öffnen.
Wenn man den Trailer gesehen hat, weiß man, dass der Film nicht von Sex oder Leidenschaft handelt, sondern von der langsamen Annäherung zweier unterschiedlicher Menschen. Da ist Nancy, eine typische Vertreterin ihrer Generation, ein wenig verklemmt, sexuell frustriert, weil sich ihr verstorbener Mann nie für ihre Bedürfnisse interessiert hat, und belastet mit allen möglichen konservativen und pro-feministischen Frauenbildern. Leo hingegen ist warmherzig, überraschend eloquent und einfühlsam, mehr ein Therapeut als ein klassischer Sexarbeiter, für den das persönliche Gespräch wichtiger ist als der eigentlich Akt des Beischlafs.
Insgesamt kommt es zu vier Treffen zwischen Nancy und Leo in einem Hotel, und die Konstellation ließe die Vermutung zu, dass es sich hierbei um ein verfilmtes Theaterstück handelt. Doch dem ist nicht so, Katy Brand hat das Buch geschrieben, und Sophie Hyde, die zuerst im Dokumentarfilmbereit gearbeitet hat, hat es inszeniert. Die Geschichte nimmt sich dabei sehr viel Zeit für ihre Figuren, ergründet ausgiebig ihre Psyche, deckt versteckte Lebenslügen und Ängste auf und steuert am Ende auf einen Akt der Befreiung zu, der zu einer Wandlung führt. Das ist schön geschrieben und gut inszeniert. Aber auch nicht übermäßig aufregend oder radikal.
Der Film lebt von seinen beiden herausragenden Darstellern, die alles geben, tief in sich hineinhorchen und mit viel Subtilität ein überzeugendes Bild ihrer Figuren zeichnen. Man kann beide Figuren gut verstehen, sowohl Nancys Unsicherheit, ihr Unbehagen gegenüber ihrem Körper, ihrem eigenen Begehren, aber auch Leos charmante, einfühlsame Art, mit der er seine Ängste und Verletzungen verbirgt. Der gleiche Film mit weniger überzeugenden Darstellern wäre vermutlich langweilig und banal geworden.
Meine Stunden mit Leo ist kurzweilig, interessant und mutig gespielt, der Film könnte zwar ein wenig dramatischer oder lustiger sein, was er in Maßen durchaus ist, kann alles in allem aber überzeugen. Eine glatte Empfehlung für einen ruhigen Filmabend im Herbst.
Note: 3+