Es gibt Momente, und davon leider immer mehr, in denen ich mich alt fühle. Ich rede jetzt nicht von sich langsam einschleichenden Gebrechen (zum Glück noch nicht vorhanden), grauen Haaren (das erste bekam ich mit 16!) oder einem veränderten Stoffwechsel (die Bürde des Alters kommt mit Rettungsringen, auch wenn es sich nicht an ihrer Anzahl bestimmen lässt), sondern von einer gewissen geistigen Ungelenkigkeit. Bestimmte zeitgenössische Entwicklungen, beispielsweise im Film, kann ich nicht mehr nachvollziehen, als großartig empfinden oder auch nur begrüßen.
Konkret geht es um den aktuellen Trend im Arthausbereich, Geschichten ganz dicht an der Realität zu erzählen und dabei weitgehend die Dramaturgie zu vernachlässigen. Bitte nicht falsch verstehen, Realismus im Film ist eine feine Sache, man soll als Zuschauer durchaus das Gefühl haben, echten Menschen zu begegnen, die sich auf realistische Art und Weise mit diversen Problemen herumschlagen. Aber es gibt auch bestimmte, über Jahrtausende (wenn man das griechische Drama mit einbezieht) entwickelte dramatische Formen und Regeln, die ihre Funktion und Berechtigung haben. Wenn man die weglässt oder verstümmelt, bleibt nur der Schatten einer Geschichte zurück, und die kann auch kein noch so realistischer Ansatz retten. Oft sind diese Filme in meinen Augen schlichtweg langweilig oder schlecht erzählt, werden aber von der Kritik geradezu hymnisch gefeiert.
Zum ersten Mal bewusst aufgefallen ist es mir bei Moonlight, der mir dreimal einen ersten Akt serviert, mich ansonsten aber am vollen Tisch verhungern lässt. Kein richtig schlechter Film, aber auch keiner, der mich emotional wirklich abgeholt hätte, weil mir die Story zu bruchstückhaft war. Inzwischen habe ich das Gefühl, vor allem im Arthausbereich gibt es fast nur noch solche Filme, verstümmelte, verdrehte und falsch erzählte Geschichten ohne packende Konflikte, Drama, Leidenschaft und vor allem Emotionen. Und ich kann den Enthusiasmus, der ihnen entgegengebracht wird, einfach nicht verstehen.
Past Lives
Young Na (Moon Seung-ah) und Hae Sung (Leem Seung-min) gehen gemeinsam zur Schule und sind gute Freunde, doch eines Tages eröffnet die Zwölfjährige ihm, dass sie mit ihrer Familie nach Kanada auswandern wird. Zwölf Jahre später lebt Young Na, die inzwischen Nora (Greta Lee) heißt, in New York und studiert Theaterwissenschaften. Als sie mit ihrer Schwester über frühere Bekannte spricht, erinnert sie sich an Hae Sung (Teo Yoo) und stellt fest, dass er sie über die Facebookseite ihres Vaters sucht. Die beiden nehmen via Skype Kontakt auf und knüpfen an ihre alte Freundschaft an. Doch dann geht Hae Sung zum Studium nach China und lernt dort eine Frau kennen, während Nora ihrem zukünftigen Ehemann Arthur (John Magaro) begegnet. Wiederum zwölf Jahre später besucht Hae Sung Nora in New York.
Es gibt zwei Arten von Freundschaften: Die einen sind temporär begrenzt und enden mit zunehmender Entfremdung, die anderen sind für die Ewigkeit gemacht, und egal, wie viel Zeit seit dem letzten Treffen vergangen ist, man ist sich stets nahe. Die Koreaner, so erklärt es Nora, verknüpfen diese besonders intensive emotionale Verbundenheit mit dem Konzept der Reinkarnation. Wenn sich zwei Menschen begegnen und sofort eine besondere Verbindung zueinander verspüren, liegt das an früheren Leben, in denen sie sich bereits kannten. Darauf spielt auch der Titel an, dessen Doppeldeutigkeit jedoch noch andere Interpretationen zulässt. Denn Immigranten wie Nora kennen mehr als nur ein Leben, eine Sprache, eine Kultur und gleiten, abhängig von ihrer Umgebung oder den Menschen, die ihnen nahe sind, unmittelbar von einem Leben ins andere.
Die Grundidee des Films von Celine Song, die stark autobiografisch geprägt ist, erinnert an eine klassische Dreiecksgeschichte, in der eine Frau zwischen zwei unterschiedlichen Männern steht. In Noras Fall sind es eher zwei verschiedene Lebensentwürfe, zum einen der einer Dramatikerin in New York, einer doppelten Einwanderin, da sie eigentlich Kanadierin ist, die mit einem jüdischen Amerikaner verheiratet ist, zum anderen gibt es Young Na, die nur als Möglichkeit, als vage Idee existiert. Die Frage: „Was wäre, wenn …?“ schwebt dabei die ganze Zeit im Raum. Wie wäre ihr Leben in Korea verlaufen? Wäre sie dann zu derselben Frau geworden?
Song stellt einige kluge Fragen in Bezug auf Identität, Herkunft und Veränderung und verwebt sie zu einer interessanten Geschichte, die sich über mehrere Jahrzehnte und zwei Kontinente erstreckt. Es ist aber auch eine sehr dürftige Geschichte. Als Zuschauer verfolgt man gerne die Kindheitserlebnisse, amüsiert sich über Young Nas Ehrgeiz, der sie schon in jungen Jahren vom Nobelpreis träumen lässt. Auch das Wiedersehen und die schüchterne Wiederannäherung nach zwölf Jahren ist interessant, aber das alles packt einen leider nicht. Es fehlt die emotionale Bindung an die beiden Figuren, die nicht so recht wissen, was sie eigentlich wollen. Auch die distanzierte Kamera, die bewusst so eingesetzt wird, um die Entfremdung der beiden zu verdeutlichen, trägt nicht dazu bei, ihnen näherzukommen. Im Grunde sind einem die beiden egal.
Das ändert sich erst sehr, sehr spät im Film, wenn Hae Sung nach New York kommt. Die erste Begegnung ist großartig gespielt und verfehlt ihre Wirkung nicht, aber auch danach nimmt die Handlung nicht wirklich an Fahrt auf. Es plätschert alles ziellos dahin, und da auch Arthur lange Zeit keine Rolle spielt, entsteht kein Drama, kein Konflikt.
Nora erkennt zwar, dass sie noch (oder wieder) Gefühle für Hae Sung hat, aber sie weiß auch inzwischen, wer sie ist und wohin sie gehört. Alles ist ein Spiel der Möglichkeiten, und vielleicht hätte es zwölf Jahre zuvor eine gemeinsame Zukunft gegeben, aber dazu schien die Verbundenheit nicht tief genug gewesen zu sein. Da Nora ihre Gedanken und Gefühle gegenüber Arthur offenbart, sich Hae Sung gegenüber aber relativ distanziert verhält, entsteht auch nie das typische Dreiecksdrama. Alle Figuren sind furchtbar vernünftig, keiner lässt seinen Emotionen Raum, die Kontrolle zu übernehmen.
Past Lives ist weniger ein Film, sondern eine stille Meditation über die Möglichkeiten, die uns das Leben bietet. Wir alle kennen die Scheidewege, an denen man eine Richtung einschlagen muss, sei es die Wahl eines Berufs, eines Landes oder eines Partners, und wir alle haben uns schon mal gefragt: Was wäre gewesen, wenn …? Verglichen mit David Leans großartigem und thematisch eng verwandtem Film Begegnung mangelt es Past Lives an Tiefe und Bedeutung, alles zu ist gefällig, zu oberflächlich, zu sehr darauf bedacht, keine großen Emotionen zu wecken oder die Figuren zu sehr aus ihrem ruhigen Fahrwasser zu reißen. Doch Kunst verlangt nach Disruption und Aufruhr, nach Konflikten und Emotionen, nicht nach weichgespültem Wohlfühlrealismus.
Note: 3-