Der Endspurt hat begonnen. Am Freitag mussten wir bzw. Mark G. zuerst unseren Mietwagen zurückgeben, was zu einer Odyssee durch halb New Jersey geführt hat. Grund dafür waren die öffentlichen Verkehrsmitteln, die er für den Rückweg benutzen musste: Vier verschiedene Züge und U-Bahnen mit all den damit verbundenen Unannehmlichkeiten und Verspätungen. Der Rest von uns war derweil auf dem Hudson River Waterfront Walkway in Newport unterwegs, nicht die kompletten 18 Meilen, sondern nur ein paar hundert Meter, die aber dafür sehr schön waren und einen tollen Blick auf die dunstverhangene Skyline von Manhattan ermöglichten. Kunst gab es auch zu sehen: Vor allem Jaume Plensas Water’s Soul war sehr beeindruckend (s. links).
Gegen Mittag kam endlich die feige Sonne hinter den Wolken hervor, und sofort war es heiß und drückend. Nach wenigen Schritten klebte bereits das T-Shirt am Körper, und in der U-Bahn war es noch schlimmer. Wir fuhren nach Lower Manhattan, um die Sehenswürdigkeiten abzuklappern, für die beim letzten Mal keine Zeit war. Begonnen haben wir am World Trade Center, das bei unserem letzten Aufenthalt im Big Apple noch im Bau befindlich war.
Das Oculus Center ist viel mehr als nur ein profaner Bahnhof, an dem sich ein Dutzend Subwaylinien kreuzen. Die riesige Halle, die in ihren Dimensionen an die Grand Central Station erinnert, ist architektonisch ansprechend, lädt zum Shoppen ein (oder auch nicht, denn die meisten Läden waren menschenleer) und bietet darüber hinaus noch Platz für Ausstellungen. Direkt an einem Ausgang (South Plaza, World Trade Center 3) gibt es einige lustige Skulpturen von Gillie and Marc, die mit A Wild Life for Wildlife auf gefährdete Arten hinweisen wollen. Tolle Fotos kann man dort natürlich auch machen.
Ganz in der Nähe befindet sich Brookfield Place, ein Shopping Center mit einem hübschen Wintergarten im XXL-Format, der Mitte der Achtzigerjahre errichtet, durch herabfallende Trümmer des World Trade Centers aber schwer beschädigt wurde. Inzwischen ist er schon lange wieder renoviert, auch die Palmen wurden neu gepflanzt, und wenn man vor der sengenden Hitze der Stadt flüchten möchte, kann man sich dort gut abkühlen. Und vielleicht eine Handtasche für einen niedrigen vierstelligen Betrag kaufen, wenn man Verwendung für so etwas hat. Ansonsten kann man den Glaspalast auch links liegen lassen.
Weil wir an der Wall Street den Bullen streicheln wollten (also die Bronzeskulptur von Arturo Di Modica, genauer gesagt, die delikatesten Teile, weil das angeblich Glück beim Aktienhandel bringen soll), haben wir einen Abstecher dorthin unternommen, um dann festzustellen, dass er schwer von ehrgeizigen Tradern oder Touristen belagert wird. Auch bei den Tierfiguren am World Trade Center muss man anstehen, um Fotos machen zu können, wenn man Glück hat, allerdings nur ein oder zwei Minuten. Hier hätten wir locker eine Viertelstunde gestanden, und dazu hatten wir keine Lust. Wenn man bedenkt, dass Di Modica die Statue ohne Auftrag in einer Nacht- und Nebelaktion vor der Börse abgeladen hat und sie gleich am nächsten Tag von der Polizei abgeschleppt wurde, ist es erstaunlich, dass sie zu so einer Attraktion geworden ist. Nur das Fearless Girl von Kristen Visbal steht nicht länger dort – weil Di Modica sich darüber beschwert hat. Man sieht noch ihre Fußabdrücke aus Metall im Asphalt, das Mädel selbst befindet sich, so viel ich weiß, nun vor der Börse.
Auf unserer Liste standen noch zwei weitere Stopps vor einem späten Lunch (oder frühem Dinner), aber plötzlich verdunkelte sich der Himmel. Die Wetter-App hatte für diesen Tag keinen Regen vorhergesagt, weshalb ich die Schirme im Hotel gelassen hatte. Ein Schirm ist, wie jeder vernünftige Mensch weiß, ein Zauberstab, um Regen fernzuhalten. Hat man ihn dabei, regnet es nicht, hat man keinen mitgenommen, wird man nass. So einfach ist das.
Nun, wir wurden nass. Es war kein dramatischer Wolkenbruch, sondern ein Gewitter mit zögerlichem Niederschlag, eher das unregelmäßige Plätschern eines urinierenden Achtzigjährigen. Feucht waren wir vorher auch schon, und am Ende spielt es keine Rolle, ob man die Nässe selbst verursacht hat oder nicht. Für eine Weile haben wir uns untergestellt, weil es hieß, dass der Regen in fünfzehn Minuten aufhören würde, aber irgendwann wurde uns klar, dass die Wetter-App uns wie quengelnde Kinder behandelt, die ständig fragen, wann man endlich da sei.
Die New Yorker waren meist mit Schirm unterwegs, nass wurden vor allem die Touristen. Manche zogen ihre Jacken über den Kopf, und eine Frau schützte sich tatsächlich mit einer Cocktailserviette. Ihren Optimismus muss man wohl bewundern. Die meisten trotzten jedoch stoisch den Unbilden. Immerhin kann man dankbar dafür sein, dass so viele Hausbesitzer in New York Geizkragen sind, Gerüste aufstellen und dann nicht mehr abbauen, weil deren Miete billiger ist als die Fassadenrenovierung. Was die Passanten vor herabfallenden Putz schützt, hält auch den Regen fern. So kamen wir einigermaßen trocken nach Chinatown, um bei Uncle Lou zu essen.
Chinesische Restaurants in den USA unterscheiden sich von ihren „deutschen“ Cousins in drei Dingen: Sie sind schweinekalt, sämtliche Bestellungen kommen auf einmal, und die gleichen Gerichte schmecken vollkommen anders. Letzteres weiß man, weil die Küchen sich immer auf den Geschmack des jeweiligen Landes einstellen, ersteres sollte man immer im Hinterkopf behalten. Daher habe ich immer eine Jacke dabei, wenn wir essen gehen. Außer gestern. Und ich bestelle selten Vorspeisen. Außer gestern. Mir war irgendwie nach Dumplings mit Shrimp, die auch recht lecker waren, aber so spät serviert wurden, dass sie schon als Dessert gelten konnten. Die anderen hatten Sesamhühnchen und vegetarische Nudeln, ich ebenfalls ein Nudelgericht mit Char Siu, Paprika, süß eingelegtem Senfgemüse und Schinken. Keine Ahnung, was der Schinken darin zu suchen hatte, aber es war sehr lecker. Wegen der zu kalt eingestellten Klimaanlage kühlt natürlich alles immer wahnsinnig schnell ab. Anfangs verbrennt man sich den Mund, weil das Essen zischend heiß serviert wird, hat man die Hälfte gegessen, ist bereits alles kalt. Wie ich dieses Problem löse, habe ich noch nicht herausgefunden, aber ich arbeite daran. Gibt es Mikrowellen im Taschenformat?
Falls wir gehofft hatten, dass der Regen nach unserer Mittagspause aufgehört haben würde, wurden wir enttäuscht. Wir wollten noch ein wenig durch Chinatown spazieren und ein bisschen die Atmosphäre auf uns wirken lassen, standen dann aber plötzlich in Little Italy. Beides ist inzwischen eher eine Kulisse für Touristen. In der einen Straße hängen chinesische Lampions über der Straße, jenseits der Kreuzung sind es dann grün-weiß-rote Flittergirlanden. Während der Pandemie haben viele Städte sowohl in Amerika als auch in Europa den Restaurants erlaubt, am Straßenrand Unterstände aufzubauen, um den Bereich der Außengastronomie zu erweitern. Jeder kennt das Sprichwort: Gibt man jemandem den kleinen Finger, nimmt er gleich die ganze Hand. In Little Italy hat das dazu geführt, dass es keine Parkplätze mehr gibt, dafür aber zwei Budengassen wie auf dem Weihnachtsmarkt. Den gibt es übrigens auch oder vielmehr ein Geschäft für Weihnachtsschmuck. Vielleicht sogar mit Glühwein. Man fragt sich, was Don Corleone wohl dazu sagen würde. Und wie in Italien auch, wird man vor jedem Restaurant gefragt, ob man nicht hereinkommen und was essen wolle. Manchmal sogar auf Italienisch.
Eines der meistfotografierten Objekte in Chicago ist The Bean, eine riesige, verspiegelte Skulptur von Anish Kapoor, die eigentlich Cloud Gate heißt, aber vom Volksmund umgetauft wurde. New York hat seine eigene Kapoor-Bohnenskulptur an der Ecke Church und Leonard Street in Tribeca, aber sie ist kleiner und wurde so konstruiert, dass sie, in einer Ecke des Jenga Towers platziert, aussieht, als würde sie von diesem fast zerquetscht. So weit, so gut. Nur sieht dieses Böhnchen aus wie eine billige, schlecht gemachte Kopie des Originals. Die Oberfläche ist schmutzig und stellenweise stumpf, und es wirkt, als hätte man nicht gewusst, wohin mit diesem Ding und es dann lieblos in eine Ecke geschoben, um es dort zu vergessen. Da es zudem geregnet hat, sind wir schnell weiter, waren aber ziemlich enttäuscht.
In relativer Nähe von der Bohne liegt das Hauptquartier der Ghostbusters. Oder vielmehr die Feuerwache, deren Fassade als Kulisse diente. Die Feuerwehrmänner haben das Beste daraus gemacht und das Ghostbuster-Symbol an der Fassade angebracht sowie zwei Graffitis auf den Boden gesprüht. Wenn man in der Gegend und ein Filmfan ist, sollte man vorbeischauen.
Zurück ging es dann durch den Fashion District, was uns allerdings erst aufgefallen ist, als immer mehr auffällig gekleidete Passanten unterwegs waren. Vor einem Prada-Store standen sie im Regen Schlange, und manche Dame im Tüllkleidchen verwandelte sich langsam in eine nasse Katze. Ob Flokatistiefel bei den Temperaturen und vor allem dem Niederschlag eine gute Idee sind, kann ich nicht sagen, ich stelle mir aber vor, dass sie nach diesem Ausflug wie ein nasser Hund riechen. Eine junge Frau mit silberner Badekappe auf dem Kopf hielt ein Pappschild hoch, und ich dachte zuerst, sie bettelt um Kleingeld für ihr nächstes Outfit (oder eine neue Frisur), doch sie hatte eine Botschaft mitzuteilen: „I don’t do Fashion. I am Fashion.“ Ich hätte sie gerne fotografiert oder mit ihr über ihr Outfit diskutiert, aber sie wirkte etwas angespannt, und wahrscheinlich war das Ganze nur eine Aktion für ihren Insta-Account.
Weil Mark G. ein Converse-Fan ist und wir uns mal wieder unterstellen wollten, sind wir noch in den Flagship-Store der Marke gegangen. Dort konnte man sich hinsetzen und den Regen beobachten, und wenn man wollte, sich die neueste Kollektion ansehen. Die sehr übersichtlich war. Vielleicht ist der Laden auch einfach nur überdimensioniert, denn der gesamte Inhalt hätte auch in einem Geschäft mit einem Zehntel der Fläche Platz gehabt. Ich bin weder Marketingexperte noch ein enthusiastischer Shopper, aber sollten diese Flagship-Stores nicht beeindrucken und zum Kaufen animieren? Fast keines der Geschäfte, in die wir reingesehen haben, wirkte einladend oder fantasievoll eingerichtet. Manche hatten originelle Schaufenster, aber mehr auch nicht. Und 99,9 Prozent aller Läden sind sowieso für Frauen. Da fühlt man sich gleich ein bisschen benachteiligt.
Weil der Regen nicht nachließ, es inzwischen schon siebzehn Uhr war und wir bereits über zwölf Kilometer zurückgelegt hatten, beschlossen wir, es gut sein zu lassen, und kehrten nach New Jersey zurück. Auch wenn das Wetter nicht auf unserer Seite war, hatten wir einen schönen Tag.