Pi-Jay geht nach Washington

Von unserem Hotel aus kann man das Capitol sehen, allerdings nicht von unserem Zimmer, das auf das Postmuseum und den Bahnhof hinausgeht. Der Vorteil, mitten in der Stadt zu residieren, sind natürlich die kurzen Wege zu den Sehenswürdigkeiten, der Nachteil ist, dass man nur schwer einen Laden oder ein Café findet und für alles den dreifachen Preis bezahlt. Zum Beispiel sechzig Dollar fürs Parken – pro Tag, wohlgemerkt. Zum Glück konnten wir den Wagen bei unseren Verwandten abstellen, bei denen einige von uns auch übernachtet haben.

Wir sind mit einem Omelette und einem Frühstücks-Burrito aus einem Café um die Ecke recht amerikanisch in den Tag gestartet. Inzwischen sind fünf der sieben Mitglieder unserer Reisegruppe krank, und unser Wagen verwandelt sich in ein Lazarett auf Rädern. Aber es gibt Schlimmeres als eine Erkältung, und daher haben wir uns unerschrocken auf den Weg zur Library of Congress gemacht, wo wir den Rest unserer Truppe getroffen haben. Ein Cousin hat sich extra freigenommen, um uns die wichtigsten Sehenswürdigkeiten seiner Heimatstadt zu zeigen, und er hat auch die Tickets für die Bibliothek besorgt.

Als die Stadt gebaut wurde, entschied man sich bewusst für den griechisch-römischen Stil, um ausländische Gesandte, die womöglich (eher wahrscheinlich) naserümpfend auf diese junge, noch dazu demokratische Nation herabblickten, zu beeindrucken. Das wirkt bis heute fort, denn das Capitol und die umliegenden Gebäude sind überaus imposant und wirken selbst auf diejenigen von uns, die noch nie einen Fuß in diese Stadt gesetzt haben, überaus vertraut. Das Weiße Haus, das Capitol mit seiner charakteristischen Kuppel – hat man alles schon in Filmen, Serien oder den Nachrichten gesehen.

Die Kongressbibliothek hingegen nicht. Mit knapp vierzig Millionen Büchern ist sie die größte der Welt (rechnet man nach Medienbeständen, ist die British Library größer), und ein Leben allein reicht nicht aus, um alles zu lesen, was einen interessiert. Die Empfangshalle im Thomas Jefferson Building ist so prunkvoll ausgestattet wie ein italienischer Renaissance-Palast, mit viel Marmor, verspielten Ornamenten und Fresken. Sehenswert ist auch der von einer Kuppel gekrönte große Lesesaal, in dem natürlich ehrfürchtige Stille herrscht. Zu den größten Schätzen gehört auch eine Gutenbergbibel, die etwas lieblos in einem Glaskasten vor dem Lesesaal ausgestellt ist.

Gleich gegenüber der Kongressbibliothek liegt das Capitol, das man auch besichtigen kann, wenn man genügend Zeit mitbringt. Wir sind nur einmal darum herumgelaufen und haben uns viele spannende Geschichten über die Stadt, ihre Bewohner und ihre Historie angehört. Leider war es mit knapp dreißig Grad sehr heiß und schwül, nicht gerade ideal, um den ganzen Tag lang durch die Stadt zu laufen, und dummerweise haben mich irgendwann die Mücken aufgespürt und sich an mir gelabt. Ich weiß ja nicht, womit sie die Biester hier füttern (Politiker? Lobbyisten?), aber sie sind riesig und ihre Stiche schwellen zu beunruhigender Größe an.

Hinter dem Capitol, dessen Rückseite wie einige andere Gebäude auch gerade renoviert wird, steht das Grant Memorial, das eine Charaktereigenschaft des Generals und Präsidenten besonders eindrucksvoll einfängt: Er behielt selbst im wildesten Schlachtgetümmel stets einen kühlen Kopf. Mancher Politiker in Washington könnte sich heute daran ein Beispiel nehmen. Interessant war auch zu erfahren, dass Ulysses S. Grant eigentlich Hiram mit Vornamen hieß, bei der Anmeldung in West Point aber ein Rekrutierungsoffizier gepatzt und den falschen Namen notiert hat. Hätte man mich Hiram getauft, hätte ich das wahrscheinlich auch gesagt.

Bis zu unserem Termin im Nationalarchiv, für dessen Besuch man ebenfalls Tickets vorab buchen muss, hatten wir noch über eine Stunde Zeit. Wir beschlossen, diese Pause in der National Gallery zu verbringen, die zu den vielen Museen gehört, die längs der National Mall zu finden sind. Viele der dort ausgestellten Gemälde kennt man aus Büchern, und sie in Natura zu sehen, war schon ein Erlebnis. Mark G. hat mich dazu genötigt, einige Posen nachzustellen, was uns ein paar schräge Blicke von den anderen Besuchern eingebracht hat, die sich bestimmt nur darüber geärgert haben, dass sie diese Idee nicht selbst hatten.

Unterwegs haben wir einige Fun Facts über die Stadt erfahren, etwa, dass die National Mall die Form eines Kreuzes hat, das sich vom Capitol bis zum Lincoln Memorial und vom Jefferson Memorial bis zum Weißen Haus erstreckt. Im Schnittpunkt der beiden Achsen sollte das Washington Memorial stehen, aber der Untergrund war zu weich, weshalb es etwas versetzt wurde. Überhaupt wurde bei seiner Errichtung ziemlich geschlampt, aber dazu später mehr. Wer hätte gedacht, dass es schon damals schwierig war, gescheite Architekten und Bauarbeiter zu finden?

Im Nationalarchiv befinden sich unter anderem die Unabhängigkeitserklärung, die Bill of Rights sowie die Verfassung der Vereinigten Staaten. Einige Blätter Papier, die die Welt verändert haben – und im Grunde relativ spontan verfasst wurden, wie quasi auf einer riesigen Serviette. Inzwischen ist die Schrift schon arg vergilbt, und im Gegensatz zu den Amerikanern waren wir auch nicht von Ehrfurcht ergriffen bei ihrem Anblick, aber cool war es schon, sie aus der Nähe zu sehen. Korrigierte Schreibfehler und Tintenklekse hat sie übrigens auch.

Zum Gebäude gehört auch ein netter Skulpturengarten, den man sich nicht entgehen lassen sollte. Inzwischen ist der Bauplan für Washington, der Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts von Charles Pierre L’Enfant erstellt wurde, vollendet. Die letzten Plätze für Memorials und Museen sind belegt, und die Stadt muss sich überlegen, wo sie in Zukunft weitere unterbringen kann. Auf der anderen Seite muss man sich fragen: Braucht Washington noch weitere Museen?

Das alte Postgebäude mit seinem Turm ist vielleicht einigen bekannt, weil es früher das Trump Hotel beherbergte. Was viele nicht wissen, ist, dass man auf die Spitze des Turms gelangen kann. Der Zugang befindet sich etwas versteckt auf der Rückseite des Gebäudes, und der Weg führt zuerst durch ein kleines Museum und dann über zwei Fahrstühle bis nach oben. Da in Washington seit gut hundert Jahren kein Gebäude mehr höher sein darf als die Breite der Straße, an der es steht (plus 6 Meter), hat man von dort eine tolle Aussicht. Das Gebäude, der Obelisk und die Kathedrale sind nur deshalb davon ausgenommen, weil sie schon vor Inkrafttreten des Gesetzes standen. Blöd ist nur, dass die Fenster vergittert sind, dafür kostet der Aufstieg nichts.

Der nächste Stopp auf unserem Weg war das Weiße Haus, das man nur von außen besichtigen kann und das kleiner aussieht, als man es aus dem Fernsehen kennt. Natürlich war ein großes Polizeiaufgebot vor Ort, aber es gab nur zwei Protestler, die zu mehr Frieden in der Welt aufriefen, ansonsten tummelten sich jede Menge Touristen vor dem Zaun, die versuchten, ein einigermaßen gutes Foto zu schießen.

Nach einem kurzen Stopp beim World War II und dem Vietnam War Memorial ging es weiter zum Washington Monument. Als der Obelisk gebaut wurde (wie gesagt, am falschen Ort), kam die Idee auf, ihn mit Kalkstein aus einem Steinbruch auf George Washingtons Besitz zu verkleiden. Blöd war nur, dass es nicht genug davon gab und nach ca. einem Drittel der Vorrat aufgebraucht war, weshalb man einen anderen Stein wählen musste, dessen Farbe nicht ganz zum ersten passt. Das haben bestimmt Politiker entschieden. Nach Vorbild der ägyptischen Obelisken und Pyramiden sollte die Spitze ebenfalls mit Gold verkleidet werden, aber weil wir hier von Amerika reden, in dem alles eine Spur spektakulärer und extravaganter sein muss, entschied man, es mit dem seltensten Material zu überziehen, das man damals kannte und erst kurz zuvor entdeckt worden war: Aluminium. Zu diesem Zeitpunkt konnte natürlich keiner wissen, dass Aluminium irgendwann rapide an Wert verlieren würde, weshalb man es später peinlich berührt wieder entfernte – und wahrscheinlich zu Coladosen umschmolz.

Das Lincoln Memorial stand als letztes auf unserer Liste, und inzwischen waren wir so müde, dass wir kaum die Stufen hochkamen. Auch hier wird fleißig renoviert, aber Abe ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Ursprünglich wollte man ihm ein Denkmal errichten, das ihn in kriegerischer Pose als Sieger über die Südstaaten zeigt, mit gezogenem Schwert und sonstigem militärischem Gedöns, aber nach seiner Ermordung erschien das nicht mehr angemessen, weshalb die Pläne verworfen wurden. Gut so, kann man nur sagen, denn der in sich ruhende Lincoln ist viel eindrucksvoller, auch wenn er kleiner wirkt als im Kino.

Damit endete unser Rundgang, der rund sieben Stunden gedauert hat. Wir sind fünfzehn Kilometer gelaufen, haben viel gesehen und gehört und dennoch noch lange nicht alles entdeckt. Aber wir kommen auf dem Rückweg ja wieder hier vorbei. Den Abend ließen wir in Georgetown ausklingen, einem wirklich hübschen, alten Städtchen, das vor allem für seine Universität berühmt ist. Seit 1933 ist Martin’s Tavern eine Institution, und dort wollten wir zu Abend essen. Mark G. und ich hatten eine sehr leckere Muschelsuppe, Burger und hawaiianisches Hühnchen, die okay waren. Dafür waren die Preise gepfeffert, schließlich sitzt man an einem geschichtsträchtigen Ort. In unserer Nische hat beispielsweise früher Präsident Truman mit Familie Hackbraten gefuttert, und drei Plätze weiter hat John F. Kennedy an seiner Amtseinführungsrede geschrieben und Jackie einen Heiratsantrag gemacht (allerdings nicht zur selben Zeit). Ob wir vielleicht zusammen mit einem zukünftigen Präsidenten gespeist haben, wird die Zukunft zeigen.

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Mark G. und Pi Jay in La-La-Land 2023 von Pi Jay. Setze ein Lesezeichen zum Permalink.

Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.