Kunst-Quickie

Bevor am Freitagabend der „offizielle“ Teil der Family Reunion begann, wollten wir nichts allzu Anstrengendes unternehmen und unsere Kräfte lieber fürs Essen und Reden schonen. Geplant war ein Ausflug mit ein paar Familienmitgliedern zum High Line Park, dem sich dann immer mehr Verwandte anschlossen, bis das Ganze einer Völkerwanderung glich. Als wir vor dem Eingang zur U-Bahn standen, uns begrüßten, plauderten und auf die Nachzügler warteten, wurden wir schon besorgt gefragt, ob etwas mit den Zügen sei – so große Menschenansammlungen bedeuten nämlich nichts Gutes.

Der Abstieg in den New Yorker Untergrund hat immer etwas von einer Höllenfahrt: Es ist dreckig, riecht furchtbar und wird mit jedem Schritt heißer, und wenn eine U-Bahn einfährt, kreischen die Bremsen wie die Seelen der Verdammten. Hier und da begegnet einem aber auch ein kunstvolles Wandgemälde, das der Verschönerung des düsteren Ortes gilt. Anders als bei uns in Deutschland scheint es aber ansonsten kaum Bemühungen zu geben, die Stationen etwas aufzuhübschen oder auch nur die Qualität der Züge zu verbessern. Irgendwie sieht alles noch genauso verwahrlost aus wie in alten Filmen aus den Siebzigern oder Achtzigern.

Zuerst sahen wir uns The Vessel an, das ein Kunstwerk, ein Gebäude und eine Aussichtsplattform ist. Die elegante, wie eine Bienenwabe oder eine kunstvolle Vase konstruierte Ansammlung aus Treppen und Plattformen steht in einem schicken Neubauviertel im Westen der Insel, dem Hudson Yards Redevelopment Project Manhattan, entstammt der Vorstellung von Thomas Heatherwick und wurde Anfang 2019 eröffnet. Leider hat es danach mehrere Selbstmorde gegeben, so dass das Gebäude eine Zeitlang geschlossen war. Nach der Wiedereröffnung und einem Sicherheitskonzept, das nur einen begleiteten Besuch vorsah, kam es jedoch erneut zu einem tragischen Vorfall, und seither ist es dauerhaft geschlossen und wird höchstwahrscheinlich abgerissen. Wirklich schade, denn es ist wunderschön.

The High Line ist ein Park, der auf der ehemaligen Hochtrasse einer Eisenbahn errichtet wurde und sich rund 2 Kilometer durch Chelsea und die West Side zieht. Entlang der Strecke, die an farbenfrohen Blumenrabatten, Büschen und Bäumen vorbeiführt, kann man einige Kunstwerke bewundern, von denen etliche tatsächlich kunstvoll sind, während man andere eher als rein dekorativ beschreiben kann oder als von der Müllabfuhr vergessen. In der Umgebung der High Line wird seit Jahren fleißig gebaut, wachsen immer noch mehr blitzende Türme aus Stahl und Glas in den Himmel. Die Gentrifizierung schreitet munter voran, und die Besitzer der Luxuswohnungen in den unteren Stockwerken bezahlen für den Umstand, dass man ihnen bequem ins Wohnzimmer gucken kann, bestimmt einen hohen Preis. Ein Spaziergang hier ist absolut empfehlenswert, ist die High Line vermutlich einer der saubersten und friedlichsten Orte, der nicht einmal so riecht wie der Rest von New York.

Derselbe Designer, der auch The Vessel erdacht hat, hat Little Island entworfen, eine künstliche Insel am Pier 55 des Hudson Rivers, in direkter Nachbarschaft zur High Line. Die gesamte, knapp einen Hektar große Plattform ruht auf riesigen Stelzen, die manche an Tulpen erinnern, andere an Golf Tees, für mich sehen sie aus wie gigantische Absätze von Stöckelschuhen. Es gibt einen kleinen Hügel mit verschlungenen Pfaden, die zu verschiedenen Aussichtspunkten führen, Spielplätze, viele Sitzgelegenheiten, um zu entspannen oder eine Kleinigkeit zu essen, und sogar ein Amphitheater für Veranstaltungen. Ein netter Stopp zum Verschnaufen, besonders wenn man mit kleineren Kindern unterwegs ist.

Zum Abschluss stand noch ein Abstecher zum Chelsea Market an, der in einer riesigen, dunklen Halle untergebracht ist und zahlreiche Imbissstände und kleine Läden beherbergt. Hier findet man jede Menge Essen, kann nach Souvenirs oder netten Kleinigkeiten stöbern und sich treiben lassen. Leider war es sehr voll in den engen Gängen, so dass wir nicht lange geblieben sind.

Am Abend ging es dann zu einem feudalen Essen in einem brasilianischen Restaurant, das im Souterrain eines Wolkenkratzers residiert und so kalt wie ein Wintertag war. Insgesamt ein schöner Abend mit Familienmitglieder aus neun Ländern und vier Kontinenten, gutem Essen und reichlich Alkohol. Anschließend ging es noch in eine Karaoke-Bar, wo eine Cousine einen Raum gemietet hatte, und der Rest des Abends ist seltsamerweise im Nebel verschwunden …

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Mark G. und Pi Jay in La-La-Land 2023 von Pi Jay. Setze ein Lesezeichen zum Permalink.

Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.