Inselhopping

Der Donnerstag begann schwierig. Ich hatte zwar gut geschlafen, mich aber verlegen und bekam schon kurz nach dem Aufstehen Kopfschmerzen. Dann habe ich länger als geplant gebraucht, um zum Treffpunkt für eine Tour durch das östliche Midtown zu kommen, weil ich unterwegs noch einige Fotos gemacht und getrödelt habe, weshalb ich auch keine Zeit mehr fürs Frühstück war. Es gab zwar jede Menge Street Food, aber ich konnte mich nicht entscheiden, welche zweifelhafte Mischung aus Kohlenhydraten und Fett ich zu mir nehmen möchte. Am Ende blieb ich lieber hungrig.

Unsere Tour begann am Lincoln Center, wo die schönen Künste residieren. Das archetektonisch ansprechende Gebäudeensemble war leider nicht gut zu fotografieren, weil auf dem Platz in der Mitte eine Bühne abgebaut wurde, auf der in den letzten Wochen etliche Freiluftkonzerte stattgefunden haben. An dieser Stelle stand das Viertel San Juan Hill, in dem 1961 West Side Story gedreht wurde, bevor man es für dieses Kulturzentrum abgerissen hat. Ein Wandgemälde an der Geffen Hall würdigt die Geschichte der Schwarzen und Latinos in der Nachbarschaft mit kleinen, skizzenähnlichen Bildern.

Über den Columbus Circle ging es danach weiter zur Billionaires’ Row mit ihren „Zahnstocher-Wolkenkratzern“, die vor vierzig, fünfzig Jahren noch Millionaires’ Row hieß. Auch hier schlägt wohl die Inflation zu Buche, und wenn die New Yorker des 19. Jahrhunderts gewusst hätten, dass die teuerste Wohnung hier weit über zweihundert Millionen gekostet hat, würde ihnen genauso der Mund vor Staunen offenstehen wie uns. Ich hätte ja gerne eine Hausbesichtigung gemacht, aber es hat uns leider keiner eingeladen.

Dafür sind wir zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage am Tower of Terror, nein, am Trump Tower vorbeigekommen, und ich konnte nicht widerstehen, es mit einem zufällig vor dem Eingang parkenden Streifenwagen zu fotografieren. Das Foyer war übrigens ebenso leer wie am Montag. Unser familieneigener Tourguide hat uns unterwegs mit einschlägigen Geschichten über die Superreichen und ihre Wohnungen versorgt und uns beispielsweise erklärt, dass ein Haus über ein anderes, wesentlich älteres hinausragt, weil sich der Bauherr dieses Recht erkauft hat, damit seine Klienten einen Blick auf den Central Park haben. Bei einem anderen Gebäude wurde ein Deal ausgekungelt, bei dem ein höherer Neubau nur innerhalb der alten Außenmauern erlaubt war. Dieser Einblick in die Architekturgeschichte der Stadt ist auf jeden Fall faszinierend.

Mein Highlight unserer Tour war ein Abstecher mit der Seilbahn nach Roosevelt Island, die man seltsamerweise mit dem Metroticket der U-Bahn bezahlt. Leider war an diesem Tag eine Bahn ausgefallen, so dass die Wartezeiten länger und die Gondeln überfüllt waren. Die Überfahrt selbst dauert nur einige Minuten und führt über den East River, der streng genommen gar kein Fluss, sondern eine Meerenge ist, und bietet einige schöne Aussichten auf die Straßenschluchten von Manhattan.

Früher beherbergte das langgestreckte Eiland einige berüchtigte Strafanstalten und psychiatrische Einrichtungen wie das New York Lunatic Asylum, über das die berühmte Enthüllungsjournalistin Nellie Bly geschrieben hat, die sich dafür dort einsperren ließ. Vom ehemaligen Pockenkrankenhaus steht nur noch eine einsturzgefährdete und daher geschlossene Ruine.

Das Beste auf der Insel ist jedoch der Blick von der Südspitze auf Manhattan mit dem UNO-Gebäude am Ufer und den neugierig herausragenden Spitzen vom Empire State und Chrysler Building in der zweiten oder dritten Reihe. Benannt ist die Insel nach Präsident Franklin D. Roosevelt, der mit einer riesigen Büste und einem berühmten Zitat über die vier Freiheiten verewigt wurde. Ziemlich große Wildgänse tummeln sich auf den Straßen und lassen sich, typisch New Yorker, nicht einmal vom lauten Hupen oder der Aussicht auf Thanksgiving vertreiben.

Ihre menschlichen Artgenossen gehen sogar kess bei Rot über die Ampel und zeigen den aufgebrachten Autofahrern nonchalant den Mittelfinger, was die Gänse sicherlich auch tun würden, wenn sie Finger hätten. Nicht minder hochmütig sind die Katzen aus der dort befindlichen Katzenzuflucht. Eine, die ich gerne von vorne fotografieren wollte, drehte so lange den Kopf weg, bis ich die Kamera sinken ließ, um mich dann direkt anzusehen. Ich bin sicher, sie hat dabei gegrinst. Nach vielen Fotostopps und einer kurzen Rast ging es schließlich zurück zur Nachbarinsel.

Die East Side ist seit jeher der Tummelplatz der Reichen. Dort hatten sie früher ihre herrschaftlichen Häuser, die nahezu alle abgerissen und durch Hochhäuser ersetzt wurde, und nur einige wenige sind noch übrig, in denen nun Generalkonsulate oder Handelskammern residieren. Luxusboutiquen säumen die Straßen, und sogar die Hunde sehen hochmütiger aus als in anderen Teilen der Stadt. Wir haben noch mehr Geschichten über die gute alte Zeit, Räuberbarone und High-Society-Fehden gehört, über mutige Unternehmer, die am Boom der Appartementhäuser schuld sind, oder eine antisemitische Gesellschaftsdame, deren Palast nach ihrem Tod abgerissen wurde, um einer Synagoge zu weichen. Alles sehr interessant und spannend, aber ich musste mich an dieser Stelle verabschieden, um im Hotel meine Kopfschmerzen auszukurieren.

Nach einer viel zu kurzen Rast ging es dann weiter zu einem Abendessen mit der Familie. Immer mehr Verwandte treffen langsam ein, und es wird zunehmend schwieriger, einen Tisch zu finden, an dem wir alle unterkommen. New Yorker Restaurants lassen sich von solchen großen Gruppen gerne Mindestverzehrgarantien geben, bei denen man am Ende oft auf den Kosten sitzenbleibt. Überhaupt sind sie alle hier recht unflexibel, lassen keine Einzelabrechnungen zu, sondern bestenfalls eine geteilte oder gedrittelte Gesamtrechnung, bei der es wegen der Nettopreise schier unmöglich ist, den gerechten Anteil zu ermitteln, und der Service ist meistens ungeheuer langsam. Aber dafür war das Essen erneut sehr gut, und die Pizza, die in einem hübschen Lokal mit Kuppel serviert wurde, mutete sogar italienisch an. Alles in allem ein gelungener, rundum harmonischer Abend.

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Mark G. und Pi Jay in La-La-Land 2023 von Pi Jay. Setze ein Lesezeichen zum Permalink.

Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.