Zwischen Los Angeles und New York, West- und Ostküste herrscht seit jeher eine gewisse Rivalität, vergleichbar mit den Reibereien zwischen Köln und Düsseldorf, Rheinländern und Westfalen oder Schwaben und Badensern. Welche Metropole hat mehr zu bieten, ist lebenswerter und hipper? Dabei sind sich die urban geprägten Bewohner der US-amerikanischen Küsten ähnlicher als ihnen vielleicht lieb ist, zumindest sehen das die eher konservativ geprägten Menschen in der Mitte des Landes so, vor allem in den sogenannten Fly-over-States, die beide Küsteneliten verachten. Amerika ist mehr denn je ein zerrissenes und gespaltenes Land.
In den vergangenen Jahren, inzwischen Jahrzehnten, waren wir vor allem im westlichen Landesteil unterwegs. Wir lieben die trockene Hitze der Wüste mit ihren satt roten, leuchtend orangenen oder hellgelben Felsformationen in den Nationalparks und der spanisch beeinflussten Kultur (insbesondere die Esskultur). Im Osten war ich hingegen nur zweimal, das erste Mal 2010 in Buffalo und New York City, das zweite Mal 2018 in den Südstaaten. Nun sind wir wieder in Manhattan und werden danach in den Süden reisen, dazwischen liegt aber noch sehr viel Terra incognita für mich. Und auch das ist neu: Wir sind im Familienbund unterwegs, mit Mark G.s Vater und Nichten und Neffen. Es ist also ein komplett anderer Urlaub als sonst.
Schon während unserer letzten drei Aufenthalte in 2016, 2018 und 2022 haben wir festgestellt, dass sich die USA stark verändert haben. Vor allem das gesellschaftliche Klima ist rauer geworden, es herrscht bisweilen eine aggressivere Grundhaltung, wie man sie auch in Europa beobachten kann, befeuert von Zukunftsängsten und zunehmend schwieriger werdenden Lebensverhältnissen seit der Pandemie, die vornehmlich auf das Konto der Inflation gehen. Auch Trump hat das Land verändert oder zumindest bereits vorhandene Strömungen verstärkt. Es gibt mehr Intoleranz, mehr Hass und Missgunst als früher.
Die Anreise war immerhin recht entspannt, unser Flug startete mittags, so dass wir beinahe ausschlafen konnten, und hektisch ist es im Vorfeld ohnehin. Bis vergangenen Dienstag hatte ich nicht einmal Zeit, die Reise, die gefühlt erst in sechs Monaten beginnen würde, vorzubereiten, dann musste alles ganz schnell gehen, und am Samstag war ich komplett im Stress. Also alles so wie sonst auch. Dafür verlief der Flug sehr ruhig, ich konnte ein paar Stunden schlafen, und bis New York dauert es auch nicht so lange wie bis zur Westküste.
Aber selbst Katastrophenflüge können perfekt verlaufen – wenn man die paar Minuten des Absturzes außer Acht lässt. Und so war es auch bei uns: Die letzten zwanzig Minuten waren grauenvoll. Es gab heftige Turbulenzen, das Flugzeug sackte immer wieder abrupt ab, und an Bord fühlte es sich an, als säße man in einer Achterbahn. Fehlte nur noch der Looping. Menschen schrien, einige lachten, um ihre Angst zu überspielen, andere übergaben sich, dann setzte die Maschine endlich unsanft auf, um sofort eine Vollbremsung hinzulegen, bei der man froh sein konnte, angeschnallt gewesen zu sein. Und ich habe entdeckt, dass ich meine Flugangst doch noch nicht komplett überwunden habe.
Bei der Einreisekontrolle gerieten wir wie immer an einen schlecht gelaunten Beamten, der sich haarklein unsere Reiseroute beschreiben ließ und nicht glauben wollte, dass wir dreißig Tage Urlaub haben. Immer diese sozialistischen Europäer. Gedauert hat es ebenfalls sehr lange, zumindest in unserer Schlange, weil vor uns ein Austauschstudent war, der hundertfünfzig verschiedene Dokumente vorlegen musste, die alle einzeln geprüft und gestempelt werden mussten. Ein Hoch auf die Bürokratie! Und die Frau, die vor ihm an der Reihe war, wurde unsanft abgeführt, weil ihre Dokumente nicht in Ordnung waren. Aber es sind alle, wirklich ausnahmslos alle willkommen. Steht auf einem Wandgemälde über den Schaltern. Ich hätte es zum Beweis fotografiert, aber das war verboten, und ich wollte nicht deportiert werden.
Mit dem Taxi ging es dann nach Manhattan. Unser Fahrer stammte wohl aus Pakistan oder vielleicht auch Indien, fuhr aber wie ein waschechter Italiener und telefonierte dabei die ganze Zeit. Dafür lief auf einem Bildschirm auf der Rückseite des Vordersitzes permanent Werbung, so dass wir dennoch gut unterhalten wurden. Und die Aussicht auf Manhattan war auch nicht übel.
Zu unserem Empfang hat die Stadt New York sogar eine Parade organisiert. Okay, es war die Geburtstagsparade für die Dominikanische Republik, die stolze fünfzig wurde, und sämtliche Dominikaner tanzten im Salsatakt die 6th Avenue hinunter. Die dröhnende lateinamerikanische Musik war in der halben Stadt zu hören. Unser Taxifahrer musste uns daher drei Blocks von unserem Hotel entfernt rauslassen, und wir durften laufen oder uns vielmehr mit unserem Gepäck sambatanzend durch die Massen bewegen.
Ich hatte ganz vergessen, wie sehr New York stinkt. Letztes Mal waren wir im September hier, in einer angenehm warmen, launigen Herbstwoche, jetzt ist Hochsommer, es ist so schwül, dass einem in kurzer Zeit das T-Shirt am Körper klebt, und in der Luft lieft ein Geruch, als wäre irgendwo etwas verendet. Abgase, Müll, Kanalisation: Man kann es sich aussuchen, was den Odeur der Stadt ausmacht, vielleicht sind es auch die schwitzenden, schiebenden Menschenmassen. Es ist erstaunlich, wie viel Abfall auf den Straßen und Gehwegen liegt, und als sich darunter der erste Glitter mischte, wusste ich, dass wir bald die Paradenstrecke erreicht hatten.
Auf die andere Seite zu gelangen, war einfacher als gedacht, insgeheim hatte ich schon befürchtet, wir müssten uns in die tanzenden, jubelnden Massen einreihen, uns die Flaggen mit dem weißen Kreuz auf rot-blauem Hintergrund umhängen und versuchen, nach einigen Blocks auf die gegenüberliegende Straßenseite zu walzen. Danach waren es nur ein paar Schritte bis zu unserem Hotel, das in einem stuckverzierten Gebäude aus dem späten 19. Jahrhundert untergebracht ist. Im holzgetäfelten Foyer spielt die ganze Zeit Musik aus den 1920er Jahren, und irgendwie hatte man das Gefühl, eine Zeitreise angetreten zu haben.
Auf dem Weg nach oben blieben wir prompt im Fahrstuhl stecken. Es war dank fehlender Klimaanlage heiß und wurde mit aufkommender Panik zunehmend heißer. Der Notrufknopf funktioniert auch nicht, und nachdem wir ein paarmal den Alarm ausgelöst hatten, ging es plötzlich weiter. Fängt ja gut an. Dafür ist das Zimmer sehr groß, besonders für hiesige Verhältnisse, und frisch renoviert. Und es ist erstaunlich ruhig. Oder es wurde erstaunlich ruhig, als erst einmal die Musik von der Parade verstummt war.
Den Abend verbrachten wir mit einem Ausflug zum Times Square, der nur fünf Gehminuten von unserem Hotel entfernt ist. Natürlich war es dort so voll wie auf dem Markusplatz von Venedig, wenn gerade fünf Kreuzfahrtschiffe auf einmal in der Stadt liegen. Ein einziges Geschiebe und Gedränge, mit zahllosen Touristen aus aller Welt, betrunkenen Einheimischen und dazwischen ein einsamer Mann, der tapfer ein Schild hochhielt: „Jesus loves you“. Atmen ging gerade noch, viel Platz zum Bewegen hatte man jedoch nicht. Aber wir sind in New York!
Richtig hungrig waren wir nicht, eine Kleinigkeit sollte es aber schon sein. Auf dem Weg zum Hotel waren wir an einem Wendy’s vorbeigekommen, und damit war die Frage, wohin sollen wir gehen, schon beantwortet, denn Mark G. liebt das Essen dort. Doch hier erwartete uns die nächste, unangenehme Überraschung: Man kann die Filiale mit keiner anderen der Kette vergleichen. Überall lag Verpackungsmüll auf dem Boden, der Abfalleimer quoll über, man konnte nur am Automaten ordern, um dann später bei der Abholung festzustellen, dass einige Speisen ausverkauft waren. Auch das Eisfach im Getränkeautomat war leer. Die Mitarbeiter, von denen es, wie überall in den USA, viel zu wenige gab, hatten sichtlich keine Lust zu arbeiten und machten sich nicht einmal die Mühe, die Bestellungen auszurufen, weshalb sie ständig von genervten Wartenden gelöchert wurden, wo zum Teufel endlich ihr Essen bleibt, was die Gesamtstimmung ungemein verbessert hat. Wahrscheinlich wurden sie zuvor von Dominikanern überrannt, die beim Tanzen zu viele Kalorien verbraucht haben. Schade.
New York hat eine ganz eigene, nervöse Energie, die sich schnell auf den Besucher überträgt, ihn aber auch ebenso schnell überfordern kann. Das Tempo ist rasant, man wird angerempelt, wenn man zu zögerlich ist, muss sich oft einen Platz erkämpfen, durch die Massen schieben und darf nie, niemals stehenbleiben. Sowohl mental wie auch physisch. Amerikaner sind immer laut, New Yorker sind noch lauter. Es wird geschrien, geschimpft, gelacht und gedroht. Dazu jaulen unentwegt die Sirenen der Polizei- und Krankenwagen (das erste, was ich sah, als ich aus dem Taxi stieg, war eine verunfallte Frau, die in eine Ambulanz geschoben wurde), mischt sich das Hupen der Autos und das Rattern der Presslufthämmer in die urbane Kakophonie. Wenn man geschlaucht von einer langen Anreise und übermüdet ist, kann das schon überfordernd sein.
Den Rest des Abends ließen wir dann gemütlich in der Rooftopbar eines Irish Pubs neben unserem Hotel ausklingen. Wir sehen viele Familienmitglieder leider viel zu selten, leben sie inzwischen in Baden-Württemberg, Basel und Tel Aviv, daher gab es einiges an Neuigkeiten auszutauschen. Gegen zehn wollten wir dann ins Bett und holten uns im Laden gegenüber noch eine Flasche Wasser. Auch hier herrschte barsche Unfreundlichkeit. Der Kassierer schrie eine Kundin an, die ihm zu langsam war, schlug wütend auf die Theke, damit sie ihre Artikel hinlegte und knurrte sie an, ob sie eine Tüte wolle. Nein, brüllte sie erbost zurück. Und der deutsche Urlauber wünschte zum ersten Mal, er wäre nach Kanada gefahren.