Durch Call Me by Your Name wurde Luca Guadagnino wohl endgültig einem breiteren Publikum bekannt, obwohl er natürlich auch früher schon für seine Filme gefeiert wurde. Schon mit Swimming Pool oder I Am Love etablierte er sich als Mann für gefühlsintensive Dramen, in denen es oft um erotische Verstrickungen, Eifersucht und Gewalt geht. Mit Suspiria, dem ersten Film nach seiner Oscarnominierung, unternahm er jedoch einen Ausflug ins Horrorgenre, leider mit nur mäßigem Erfolg.
Seine erklärte Muse war lange Jahre Tilda Swinton, doch nun scheint Timothée Chalamet sie abgelöst zu haben, denn in Guadagninos letztem Film spielt er wieder eine der beiden Hauptrollen. Immer wieder war auch die Rede von einer Call Me by Your Name-Fortsetzung, doch nachdem mit Armie Hammer einer der beiden Stars aufgrund von Missbrauchsvorwürfen (die pikanterweise Vorstellungen von Kannibalismus beinhalten sollen) in Ungnade gefallen ist, dürfte wohl in absehbarer Zeit nichts daraus werden. Bones and All war allerdings kein Erfolg an der Kasse, was angesichts seines Themas und seiner Umsetzung nicht verwunderlich ist. Im Moment ist er bei Prime Video zu sehen.
Bones and All
Maren (Taylor Russell) ist ein scheuer 17jähriger Teenager mit wenigen Freunden. Als ein Mädchen aus der Schule sie eines Abends zu sich einlädt, kommt es zu einem verstörenden Zwischenfall: Maren beißt ihr beinahe den Finger ab. Zusammen mit ihrem Vater (André Holland) flieht sie aus der Stadt und in einen anderen Bundesstaat. Dort überlässt ihr Vater sie allerdings sich selbst, weil er nicht mehr bereit ist, ihre kannibalistischen Neigungen zu vertuschen.
Auf sich allein gestellt, macht sich Maren auf, nach ihrer Mutter (Chloë Sevigny) zu suchen, die sie bereits als Kind verlassen hat. Unterwegs trifft sie auf den etwas unheimlichen Sully (Mark Rylance), der in ihr eine verwandte Seele erkennt: Maren ist ein „Eater“, und eine ihrer Fähigkeiten ist, andere Eater am Geruch zu identifizieren. So erkennt sich später auf ihrer Reise in Lee (Timothée Chalamet) ebenfalls einen Gleichgesinnten, und fortan zieht das junge Paar gemeinsam durch das Land.
Kannibalismus ist ein relativ beliebtes Sujet im Horrorgenre, meistens handeln diese Filme von einer Gruppe junger Leute, gerne bestehend aus leicht bekleideten Damen, die auf eine abseits lebende Familie oder Gemeinschaft trifft, die Jagd auf Menschen macht, um deren Fleisch zu verspeisen. Blutgericht in Texas (The Texas Chain Saw Massacre) ist wohl einer der bekanntesten Filme dieser Art, andere sind The Hills have Eyes oder Wrong Turn. Allen gemeinsam ist, dass die Kannibalen hier die Bösen sind, gegen die die Helden zu kämpfen haben.
Aber heutzutage gibt es ja nichts, was es nicht gibt. Zombiefilme aus der Sicht der Zombies zum Beispiel (z.B. Warm Bodies), warum also nicht die Menschenfresser zum Gegenstand einer Geschichte machen? Camille DeAngelis hat in ihrem gleichnamigen Roman mit dieser Idee gespielt und sie mit einer Coming-of-Age-Story kombiniert, die von der Suche einer jungen Frau nach einem Platz in der Welt handelt.
Diese Art von Geschichte gab es schon so oft, dass man sie kaum noch zählen kann, und Guadagnino bemüht dabei die üblichen Plotmuster. Bones and All ist ein episodisches Roadmovie, das von Selbstfindung und erster Liebe handelt, vor allem aber von der Verlorenheit einer jungen Generation, die keinen Platz in der Gesellschaft findet. Sowohl Maren als auch Lee sind gestrandet, ohne Geld, ohne Schulausbildung, ohne Hoffnung auf ein stabiles Leben. Beide stammen aus problematischen Elternhäusern, in denen sie schon früh von ihren Eltern verlassen oder misshandelt wurden.
Der Kannibalismus, der hier wie ein unauslöschlicher Zwang dargestellt wird, könnte dabei für viele Dinge stehen, Drogensucht oder eine psychische Erkrankung beispielsweise, ist aber etwas, dem sich keiner der Betroffenen entziehen kann. Ansatzweise erinnert er auch an den Werwolf-Mythos, nur mit dem Unterschied, dass fast keiner der Betroffenen ernsthafte Anstrengungen unternimmt, diesen Impuls zu bekämpfen. Die meisten erkennen an, was sie sind, und auch Maren akzeptiert schnell ihre neue Existenz als Eaterin.
Doch Maren weiß auch um die moralischen Dimensionen ihrer Leidenschaft, und zumindest ansatzweise ringt sie mit sich selbst, ob sie ihren Trieben nachgeben soll oder nicht. Diesen Aspekt hätte man durchaus noch verstärken können, um der Figur mehr Tiefe zu verleihen. Meistens werden diese Überlegungen jedoch auf andere Figuren übertragen. So hat Sully sich darauf spezialisiert, Sterbende ausfindig zu machen, um sich nach deren natürlichem Ableben an ihnen gütlich zu tun. Andere wie Jake (Micheal Stuhlbarg) töten nur zum Spaß und schwärmen von der Art, einen Körper komplett zu verspeisen (Bones and All eben). Klare Regeln gibt es nicht, jeder muss seinen eigenen Weg finden.
Diese Selbstfindungsgeschichte ist schön erzählt, könnte aber, wie gesagt, klarer und stringenter sein. Vielfach weiß man einfach nicht, was in Marens Kopf vor sich geht, sie akzeptiert ihre Veranlagung sehr schnell, erfährt durch eine Audio-Nachricht von ihrem Vater, dass sie bereits als Kleinkind gemordet hat, aber auch das nimmt sie einfach so hin. Ihre verdrängten Erinnerungen scheinen nur wenige Emotionen in ihr auszulösen, da hätte man wesentlich genauer hinschauen können und auch müssen.
Auch Lees Figur bleibt emotional weitgehend unzugänglich, über weite Strecken hat man nicht einmal den Eindruck, dass sich hier wirklich eine Liebesbeziehung anbahnt, sondern dass die beiden eher in einer Art Schicksalsgemeinschaft miteinander verbunden sind. Beide haben, wie gesagt, eine problematische Kindheit hinter sich, die ebenfalls vom kannibalistischen Verlangen eines Elternteils überschattet wurde. Gerade diese latente Bedrohung aller Menschen um einen Eater herum hätte für eine spannende Atmosphäre sorgen können, in der Platz für erotische und psychische Abgründe gewesen wäre. Aber diesen Weg wollte man offenbar nicht beschreiten.
Bones and All ist kein Horrorfilm im herkömmlichen Sinn, auch wenn Guadagigno den kannibalistischen Akt durchaus zeigt, ihn allerdings niemals plakativ ausschlachtet. Es ist eher ein stilles Roadmovie, das eine Verlorenheit ausstrahlt, die einem beim Betrachten mit Trauer erfüllt. Die Zukunft von Maren und Lee ist hoffnungslos, weil es für sie keinen Platz gibt, auch wenn sie sich gegen Ende bemühen, einen zu finden. Hier nimmt die Geschichte eine Wendung, die etwas abrupt und schwammig wirkt, weil man zu wenig über dieses neue Leben erfährt, bevor der Autor David Kajganich eine reale Bedrohung über das Paar hereinbrechen lässt, die viel zu mainstreamig für einen Arthausfilm ist und im vorhersehbarsten Ende überhaupt mündet. Das ist enttäuschend.
Lohnt sich Bones and All? Für Fans poetischer, meditativ angehauchter Liebesgeschichten und Roadmovies oder Selbstfindungsdramen ist sicherlich noch das meiste dabei. Leider ist die Story relativ mager und episodisch strukturiert, die Figuren erschweren es einem, einen emotionalen Zugang zu ihnen zu finden, aber dieses Manko wird von den beiden herausragenden Hauptdarstellern wieder wettgemacht. Nur das Ende ist wirklich deprimierend.
Note: 3-