In den Neunzigerjahren avancierten Models zu Superstars, während die zeitgenössische Mode weite Schnitte propagierte, mit Jacken und Hemden, die zwei Nummern zu groß schienen. Einige Jahre später änderte sich die Mode hin zu slim fit, figurbetonten Silhouetten, während gleichzeitig Köche ganz groß rauskamen. Der Zeitgeist hat anscheinend einen Sinn für Ironie.
Natürlich gab es auch früher schon berühmte Köche. Im Frankreich des Ancien Régime waren sie an den Höfen des Adels tätig, in unserer Zeit begründen sie lieber ihre eigenen Imperien mit Kochbüchern, Küchengeräten und -utensilien. Viele Jahre lang war die Haute Cuisine oder Sterneküche tonangebend, und sie setzt auch heute noch Standards (auch dank eines kleinen Büchleins, mit dem man Reifen verkaufen wollte), hat aber mit der Nouvelle Cuisine inzwischen eine etwas bodenständigere Konkurrentin bekommen, aus der sich die heutigen Trends weiterentwickelt haben. Zu den Gourmets alter Schule, die von einem Sterne-Restaurant zum anderen pilgern, gesellten sich nun Foodies, die einfach nur gutes Essen und kreative Inszenierungen lieben – und Food-Porn auf Facebook groß gemacht haben.
Auch Filme übers Kochen und Genießen gibt es viele, darunter auch solche, die sich über das Gebaren der Starköche und die gesamte Szene lustig machen (Brust oder Keule) oder den Hintergrund für bösartige Gesellschaftsbilder benutzen (Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber oder Das große Fressen). Nun gesellt sich ein weiteres Werk dazu.
The Menu
Tyler (Nicholas Holt) ist besessen von gutem Essen und ein riesiger Fan des Starkochs Julian Slowik (Ralph Fiennes), umso aufgeregter ist er, als er eine Reservierung in dessen exklusivem, auf einer einsamen Insel gelegenem Restaurant ergattert. Die junge Margo (Anya Taylor-Joy) begleitet ihn, teilt aber seine Begeisterung fürs Essen nicht. Mit ihnen sind noch weitere Gäste geladen, darunter die Restaurantkritikerin Lillian Bloom (Janet McTeer) und ihr Verleger Ted (Paul Adelstein) sowie ein Filmstar (John Leguizamo). Doch schon bald merken die Gäste, dass dieser Abend anders verläuft als erwartet.
Der ungemein gelungene Trailer des Films verrät im Prinzip alles, ohne wirklich explizit die einzelnen Wendungen zu verraten. Obwohl die Andeutungen nicht allzu subtil sind, warne ich an dieser Stelle vor Spoilern – ohne die ist es jedoch nur schwer möglich wäre, über den Inhalt zu reden. Wer den Film noch bei Disney + anschauen möchte, sollte selbst entscheiden, ob er an dieser Stelle weiterliest.
Die Geschichte beginnt ein bisschen wie ein Katastrophenfilm mit der Vorstellung der unterschiedlichen Figuren. Man lernt den enthusiastischen, aber etwas verschrobenen Tyler kennen, den Nicholas Holt meisterhaft zum Leben erweckt, ein zutiefst unsicherer Mensch, gleichzeitig ein unangenehmer Streber und doch nicht unsympathisch. Warum sich die erfrischend direkte Margo mit ihm eingelassen hat, ist für lange Zeit ein Rätsel, wird aber dann überraschend aufgelöst – und erfährt gegen Ende nochmals einen abgründigen Twist, der einem Schauer über den Rücken jagt.
Das Drehbuch von Seth Reiss und Will Tracy weist einige dieser gelungenen Wendungen auf, es strotzt vor eloquenten und geistreichen Dialogen und spart nicht mit bissigen Seitenhieben auf die Adepten der Sternegastronomie. Doch nicht alle Figurenbeschreibungen sind gelungen, Karikaturen sind sie alle, stellenweise grotesk überzeichnet, stellenweise aber auch arg klischiert. Als Zuschauer fragt man sich natürlich früh, warum ausgerechnet diese illustre Gästeschar für dieses letzte Abendmahl ausgewählt wurde. Bei der Restaurantkritikerin kann man es sich vorstellen, bei manchen anderen nicht. Leider finden die Autoren nicht bei allen eine befriedigende Antwort.
Vor allem die erste Hälfte des Films ist ein einziges Vergnügen, wunderbar von Regisseur Mark Mylod in Szene gesetzt, doch je länger das Schauspiel dauert, desto mehr Ermüdungserscheinungen schleichen sich ein. Das größte Manko ist das viel zu passive Verhalten der Gäste, die sich recht schnell in ihr Schicksal fügen und leider überhaupt keinen Kampfgeist zeigen. Natürlich ist The Menu kein Splatter-Film oder Rache-Actioner, sondern eine bissige Satire, aber das menschliche Verhalten wirkt seltsam künstlich und stellenweise aufgesetzt. Vermutlich soll damit das blasierte Auftreten dieser Klientel karikiert werden – aber dennoch …
Letzten Endes ist das versprochene Konzept des Abends, aber auch des Films nicht ganz aufgegangen. Man versteht die Beweggründe des Chefkochs, auch wenn die Wahl seiner Zielpersonen nicht hundertprozentig schlüssig erscheint. Warum ausgerechnet diese Gäste? Wenn sie nur Stellvertreter verschiedener Gästetypen sind, warum werden sie dann ganz explizit an den Pranger gestellt, als ihre Geheimnisse aufgedeckt werden? Überhaupt: Sollte ein ausgebrannter, desillusionierter und enttäuschter Slowik nicht eher im- als explodieren? Und ist es glaubwürdig, dass auch all seine Mitarbeiter dasselbe Maß an Lebensmüdigkeit an den Tag legen? Es hilft, dass die Crew eher wie eine ferngesteuerte Kultgemeinschaft wirkt, aber einige Fragen bleiben und nicht jede überraschende Wendung funktioniert.
Alles in allem ist The Menu ein gelungener Film, großartig inszeniert und mit vielen klugen Dialogen und etlichen amüsanten Einfällen, aber letzten Endes wird man etwas unbefriedigt entlassen, mit der Ahnung, dass mehr möglich gewesen wäre. Vergleichbar mit dem Besuch in einem Sternerestaurant, an dessen Ende man noch Hunger hat.
Note: 3