Diesen Klassiker von Steven Spielberg habe ich relativ spät gesehen, vermutlich Mitte der Neunzigerjahre auf der Filmschule, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich ihn in den letzten zehn Jahren wenigstens ein weiteres Mal angeschaut habe. Daher war ich völlig überrascht, dass ich keine Kritik von ihm gefunden habe.
Aber nachdem ich ihn in den USA vergangenen Sommer erneut und diesmal in (fake) Imax, aber immerhin zum ersten Mal auf der großen Leinwand erleben durfte, bietet sich nun die Gelegenheit, dieses Versäumnis nachzuholen.
Der weiße Hai
Als die Leiche einer jungen Frau an den Strand von Amity Island gespült wird, geht der örtliche Pathologe zunächst von einem Haiangriff aus, und der Polizeichef Brody (Roy Scheider) sperrt daraufhin die Strände. Weil jedoch der 4. Juli und damit der Beginn der lukrativen Sommersaison bevorsteht, bedrängen ihn Bürgermeister und Stadtrat, diese Entscheidung zu revidieren. Doch dann stirbt ein Kind durch einen weiteren Haiangriff, und schließlich macht sich Brody mit Hilfe des Haijägers Quint (Robert Shaw) sowie des Meeresbiologen Hooper (Richard Dreyfuss) auf, den Hai zur Strecke zu bringen.
Der Sommer 1916 war besonders heiß, und weil es mittlerweile gesellschaftlich akzeptabel geworden war, im Meer schwimmen zu gehen, tummelten sich besonders viele Badegäste an den Stränden New Jerseys. In der ersten Julihälfte jedoch wurden fünf Personen von einem oder mehreren Haien attackiert, bei denen vier Männer starben und ein Junge schwer verletzt wurde. Wie in Peter Benchleys Roman, der 1974 erschien und diese Ereignisse als Blaupause benutzte, wären zumindest die letzten Attacken unmöglich gewesen, hätten die Behörden die Zeugenaussagen und Warnungen der Experten ernster genommen.
Die Ereignisse sollten jedoch nachhaltig das Bild der Menschen in den USA von Haien prägen und machten aus ihnen die Killer, als die sie immer wieder in Filmen, Büchern und Serien auftauchen. Dabei sind Haie keineswegs von Natur aus böse oder brutale Fressmaschinen, aber diesen Ruf hatten sie spätestens seit Spielbergs Hit endgültig weg. Selbst Benchley sagte 2000 in einem Interview, er würde seinen Roman heute nicht mehr so schreiben, aber der Schaden war angerichtet.
Über die Dreharbeiten wurde bereits viel berichtet, etwa über den mechanischen Hai (Bruce, angeblich nach Spielbergs Anwalt benannt), der nicht richtig funktionierte, weil er für Süßwasser konstruiert war und seine Mechanik im Salzwasser Schaden nahm. Was sich im Nachhinein als Glücksfall herausstellen sollte, da der Hai nun seltener zu sehen war, wodurch der Film um einiges gruseliger wurde. Dagegen fallen die Szenen, in denen er dann tatsächlich zu sehen ist, qualitativ leider etwas ab, weil der Hai recht unnatürlich wirkt. Das berühmte Zitat: „You’re gonna need a bigger boat“ war übrigens improvisiert und stand so nicht im Drehbuch, was ein weiteres Mal beweist, dass man die besten Einfälle nicht planen kann.
Der Anfang des Films ist nahezu perfekt, er verspricht von der ersten Szene an eine Menge Spannung und Horror, ist ungeheuer dicht erzählt, stellt seine Figuren so beiläufig und doch so prägnant dar, dass sich viele Drehbuchautoren auch heute noch eine Scheibe davon abschneiden könnten, und ist insgesamt genial inszeniert. Es ist interessant zu sehen, wie sich der Blickwinkel im Verlauf der Handlung immer weiter verkleinert, es beginnt mit Massenszenen, mit Menschen am Strand, in der Stadtversammlung, und Brody erscheint dort immer wieder wie ein in die Enge getriebenes Tier. Spielberg wagt sich an Gesellschafts- und Konsumkritik, wendet sich aber schließlich davon ab und konzentriert sich auf die Intimität zwischen Jägern und Beute und zeichnet nebenbei ein faszinierendes Psychogramm dreier höchst unterschiedlicher Männer. Wie sich das Verhältnis zwischen Quint, dem Mann fürs Grobe, und dem privilegierten, studierten Hooper von Verachtung zu gegenseitigem Respekt wandelt, ist großartig erzählt. Lediglich Broy kommt, anders als in der Romanvorlage, etwas zu kurz.
Was mir bei der Neusichtung vor allem aufgefallen ist, ist die komplett andere Dramaturgie, die sich erfrischend und wohltuend von den gleichförmigen Hollywooddrehbüchern unserer Zeit unterscheidet. Spielberg erzählt zwar effizient, lässt seinen Figuren und der Story aber auch Raum zum Atmen, kann dabei in der zweite Hälfte – zumindest aus heutiger Sicht – aber die eine oder andere Länge nicht völlig verhindern. Selbst später, kurz vor dem Höhepunkt der Spannung, nimmt er noch einmal Tempo raus, driftet kurz ins Komische und sogar ins Rührende ab, um dann noch einmal ein Höchstmaß an Action herauszuholen. Und John Williams geniale Musik tut ihr Übriges dazu.
Der weiße Hai hat Maßstäbe im Subgenre des Tierhorrors gesetzt, obwohl es relativ wenige unangenehm blutige oder ekelerregende Momente gibt – das wäre heute vermutlich komplett anders, einfach weil man es dank der überlegenen Tricktechnik kann und viele Filmemacher das Bedürfnis verspüren, immer noch ein klein wenig extremer als ihre Vorgänger sein zu wollen. Spielbergs Film spielt vor allem mit der Kraft der Vorstellung und der Angst des Menschen vor dem Unbekannten. Und wer hat seither nicht beim Schwimmen im Ozean an diesen Film denken müssen und an das, was sich möglicherweise unter dem Schwimmer verbirgt?
Note: 1-