Dominas, Neon-Zombies und Fatman

Weil wir nicht die ganze restliche, uns verbleibende Zeit in Los Angeles verbringen wollten, fuhren wir am letzten Sonntag im September noch einmal in die Wüste. Wir hatten überlegt, noch ein bisschen in Zion oder Bryce National Park wandern zu gehen, waren aber immer noch etwas ausgelaugt von unseren letzten Touren. Außerdem hätten wir dann erneut durch die Baustellen an der Grenze zu Arizona fahren müssen, und der Gedanke, wieder zweieinhalb Stunden oder länger im Stau zu stehen, hat dann den Ausschlag gegeben. San Diego wäre noch eine Alternative gewesen, aber die Hotels waren so exorbitant teuer, dass es erneut nach Las Vegas ging.

Und warum nicht? Das Wetter ist mit knapp vierzig Grad immer noch sehr heiß, aber es ist eine trockene und keine schwüle Hitze mehr wie im August, man kann hier eine Menge unternehmen, und wir haben uns spontan mit einer Freundin verabredet, die gerade Urlaub in Arizona macht. Diesmal wollten wir in Downtown übernachten, wo wir die letzten Male nicht waren, und haben im Main Street Station Casino Brewery Hotel (die Betreiber konnten sich wohl nicht recht entscheiden, was sie in erster Linie sein wollen) eine solide Bleibe gefunden.

Das Hotel liegt am ehemaligen Bahnhof von Las Vegas und erinnert mit seiner Ausstattung an die viktorianischen Bahnhöfe Amerikas: Viel Holz, Zinndecken, Buntglas und noch mehr Holz in Form verschnörkelter Zierleisten. Im Foyer stehen antike Möbel, an den Decken drehen sich wuchtige Ventilatoren, und an der Fassade brennen unzählige Glühbirnen, die dem Gebäude das Flair des alten Las Vegas verleihen. Musealen Charakter hat auch das Stück Berliner Mauer, doch die Platzierung spricht eher für Pragmatismus (oder einen Sinn für Ironie): Es steht in einer Kasino-Toilette und trägt die Urinale.

Gleich gegenüber unserem Main Street Station liegt das relativ neue Circa, ein sehr modernes Hotel und Kasino, das entsprechend überlaufen ist. Nicht so stylisch wie die Gebäude am Strip, aber dafür sind viele Croupiers leichtbekleidete junge Frauen, die, wenn sie nicht an den Spieltischen stehen, auf erhöhten Podesten tanzen. Ich frage mich, wie die Stellenbeschreibung dazu ausgesehen hat. Beliebt ist es auf jeden Fall, weshalb im Kasino auch der Bär steppt. Im Vergleich dazu geht es bei uns viel gemächlicher zu, und das ist auch gut so.

Beim Eingang ins Circa wurde übrigens unser Ausweis kontrolliert, was nichts mit unserem jugendlichen Aussehen und der Annahme, wir könnten jünger als 21 Jahre sein, zu tun hat, sondern ein Prozedere ist, das man hier immer wieder mal antrifft, vor allem in Nachtclubs. Man sollte also immer einen Ausweis mit sich führen, denn eine Frau vor uns wurde abgewiesen, obwohl sie die vierzig bereits deutlich überschritten hatte.

Aus Bequemlichkeit haben wir am ersten Abend im Hotel gegessen, in der hauseigenen Brauerei, die für ihre Prime Ribs bekannt ist. Vor sieben Jahren waren wir bereits einmal hier, und auch diesmal hat es gut geschmeckt. In Deutschland werde ich wohl in nächster Zeit hauptsächlich vegetarisch essen, um den vielen Fleischkonsum auszugleichen, aber wie die Amis sagen: When in Rome do as the Romans do. In der Gastronomie merkt man übrigens stark den allgemeinen Personalmangel, denn viele Lokale sind nach wie vor ganz geschlossen oder haben nur zu bestimmten Zeiten geöffnet, bieten entweder Frühstück und Lunch oder Dinner an, andere öffnen nur an den Wochenenden. Dafür gibt es im Hotel Housekeeping; man kann eben nicht alles haben, schätze ich.

Nach dem Essen haben wir einen Spaziergang über die Fremont Street gemacht, jene überdachte Flaniermeile in Downtown, an der sich zahlreiche Hotels und Kasinos befinden. Die Lightshow an der Decke scheint noch spektakulärer geworden zu sein: Waren es früher zumeist nur psychedelische Farbmuster, die zu sehen waren, sind es heute kleine Filme, die abgespielt werden, eine Reise durch die Galaxis beispielsweise, mit exotischen Planeten und Raumstationen wie aus einem Science-Fiction-Film. Sieht ziemlich cool aus und wechselt regelmäßig.

Die Fremont Street ist die Partymeile von Las Vegas, man könnte auch sagen, der Ballermann. Alle Hotels haben eine zur Straße hin offene Bar, es gibt darüber hinaus jede Menge Clubs, Souvenirshops und Geschäfte, in denen man das Marihuana kaufen kann, nach dem es überall riecht. Künstler bieten hier ihre Produkte an, es gibt aber auch jede Menge Bettler. Manche tragen originelle Schilder („Vegetarian seeks buffet“ oder „Need money for strippers & blow“), andere drehen Blumen aus Bambusstreifen oder einem ähnlichen Material, um sie zu verkaufen, viele traurige, gebrechliche Gestalten starren auch nur mit leerem Blick vor sich hin.

Viele junge Leute treffen sich hier zum Feiern, man sieht aber auch ältere Leute, die noch mal einen draufmachen wollen oder sich einfach nur neugierig umsehen, und gelegentlich sogar Paare, die ihren schlafenden Nachwuchs im Kinderwagen schieben. Downtown ist bei den Senioren, die hauptsächlich wegen der Automaten kommen, immer noch sehr beliebt, weil der Strip inzwischen als der Anlaufpunkt für Familien und Touristen gilt – und wesentlich teurer ist.

Dafür geht es in Downtown ein wenig freizügiger zu, auf der Straße posieren weitaus mehr halbnackte Männer und Frauen, die sich für ein Trinkgeld mit den Touristen fotografieren lassen, als auf dem Strip. Dort sieht man hauptsächlich Showgirls im Glitzeroutfit mit grellbunten Federbüscheln auf dem Kopf, in Downtown tragen sie Lederstiefel, Tangas und nicht immer einen BH. Und fast alle haben eine Peitsche in der Hand, um männliche Touristen zu züchtigen. Die halbnackten Männer in engen Jeans natürlich nicht, die stemmen ihre Kundinnen meistens nur in die Luft und präsentieren ihre Waschbrettbäuche – und die amerikanische Flagge. Kein Wunder, dass es dazwischen vereinzelte christliche Gruppen gibt, die über Megaphon predigen und auf Plakaten zur Umkehr aufrufen.

Es ist ein merkwürdiges Sittenbild, das die Fremont Street abliefert: Frauen sind aufreizend, aber brutal, Männer patriotische Cowboys. Andererseits wäre es auch merkwürdig, wenn die Männer ihre Kundinnen verprügeln würden, selbst zum Schein. Apropos Cowboys: Es muss wohl ein Kongress texanischer Viehzüchter in der Stadt stattfinden, denn wir haben eine Menge Männer (und einige wenige Frauen) in Jeans, Cowboystiefeln und Stetson gesehen. Stripper können es nicht gewesen sein, denn sie hatten Hemden an.

Anziehungspunkt sind zudem drei Bühnen mit Livemusik, die so laut ist, dass man sein eigenes Wort nicht mehr versteht. Entsprechend muss man vorsichtig sein mit der Wahl des Hotels, denn nicht wenige Zimmer gehen hinaus auf die Straße, und auf manchen Zimmern liegen Ohrstöpsel anstelle der Schokolade auf den Kopfkissen. Jeden Abend finden drei Konzerte oder Auftritte von DJs gleichzeitig statt. Die Namen der Künstler sagten mir nichts, einige waren aber nicht schlecht, und immerhin können sie nun von sich behaupten, einmal in Las Vegas aufgetreten zu sein. Immer wieder sah man Menschen tanzen, an einem Abend ein Paar, das mit seinen faltigen Gesichtern hoch in den Neunzigern sein könnte, aber so energiegeladen herumgehüpft ist, dass sie den nahen Tabledancern auf einer Theke Konkurrenz gemacht haben.

Faszinierend ist immer noch der Heart Attack Grill mit seiner Waage vor dem Eingang. Gäste über 350 Pfund essen hier gratis, und alle tragen weiße Patientenkittel, während die Kellnerinnen wie nuttige Krankenschwestern aussehen. Ob es den 10.000 Kalorien-Burger noch gibt, weiß ich nicht, aber wir haben beobachtet, wie eine Schwester einem männlichen Gast den Hintern versohlt hat. Das Klatschen hat man bis auf die Straße gehört, die Schreie auch. Und das war nicht der einzige Gast, der sich das angetan hat. Vielleicht gibt es dafür ein paar Pommes umsonst.

Da wir unserer Freundin, die seit langer Zeit nicht mehr in Las Vegas gewesen war, versprochen hatten, ihr die Stadt zu zeigen, wollten wir unseren zweiten Tag sehr gemütlich verbringen. Geplant war ein, zwei Stunden am Pool zu liegen, zu unserer Überraschung war er aber bereits geschlossen, obwohl er bis zum Monatsende geöffnet sein sollte. Vermutlich wieder der Personalmangel. Gegessen haben wir im hoteleigenen Restaurant, das das einzige Buffet in Downtown anbietet (alle anderen sind noch geschlossen), und auch dies nur bis zum frühen Nachmittag. Das Ambiente, das an Wintergärten und Varietés des Fin de Siècle erinnert, ist wunderschön, die Speisen sind leider nur okay. Erstaunlicherweise gab es viel Hawaiianisch, was nicht gerade meine Lieblingsküche ist. Ich sag nur: Loco Moco, ein Hamburger Patty mit Reis, einem Ei Benedict, ertränkt in brauner Bratensauce. Es sah aus wie jene Häuflein, um die man gewöhnlich auf der Straße einen Bogen macht.

Zusammen mit unserer Freundin ging es tags darauf dann an den Strip. Geparkt haben wir in einem Parkhaus an der Fashion Show Mall, wo man seinen Wagen tatsächlich noch kostenlos abstellen darf. Zu Fuß ging es dann weiter bis zum Bellagio, um uns natürlich die Herbstdekoration im Wintergarten anzuschauen. Diesmal beherrschten etliche Wasserfälle die Szenerie, umgeben von Blumen, Kürbissen und gigantischen Füllhörnern. Obwohl gut gemacht, fand ich sie, verglichen mit früheren Installationen, ziemlich langweilig.

Weil wir unserer Freundin von unserem Aufenthalt im South Point erzählt hatten, wollte sie unbedingt dorthin, und so haben wir die Gelegenheit wahrgenommen, noch einmal im Steak and Shake zu essen. Die Milchshakes (Schokolade, Oreo und Karamell) waren wieder ausgezeichnet, die Burger auch. Durch den Feierabendverkehr ging es dann zurück nach Downtown, wo wir den Abend auf der Fremont Street ausklingen ließen.

Um halb sieben Uhr am nächsten Morgen war die Nacht bereits zu Ende, als ein kräftiges Gewitter über der Stadt niederging. Während der diesjährigen Monsunsaison wurde Las Vegas bereits dreimal unter Wasser gesetzt, und halbwegs befürchteten wir schon, dies würde nun wieder geschehen. Zum Glück ließ der Regen nach einer halben Stunde nach. Zu dem Zeitpunkt hatte sich jedoch bereits ein halbes Dutzend Heuschrecken auf unserer Fensterbank versammelt, um sich unterzustellen. Selbst die biblischen Plagen sind nicht mehr das, was sie mal waren.

Weil es noch recht früh war, wollte ich noch ein bisschen weiterschlafen, doch dann klopfte das Zimmermädchen an die Tür und wollte aufräumen und Betten machen. Es ist ja schön, wieder Housekeeping zu haben, aber um acht Uhr morgens?

Eine Stunde später waren wir dann auf dem Weg zum Strip, um die Sehenswürdigkeiten abzuklappern, die wir am Vortag nicht geschafft hatten. Auch für uns gab es Neues zu sehen, etwa die Love-Installation von Laura Kimpton im Palazzo Waterfall Atrium des Venetians, gute dreieinhalb Meter große, knallrote Buchstaben aus Stahl vor einem Indoor-Wasserfall. Ein beliebtes Fotomotiv, das ich bis vor kurzem nicht auf dem Schirm hatte. Darüber hinaus waren wir auch in The Park, einem schön gestalteten Bereich vor der T-Mobile-Arena, in dem sich die 12 Meter hohe tanzende Frauenfigur Bliss Dance befindet – und ein Hello-Kitty-Café, das bei mindestens zwei erwachsenen Frauen, die ich kenne, schrille Begeisterungsschreie hervorrufen würde. Allerdings ist es winzig, hat aber einen großen Außenbereich.

Apropos Kunst: Vegas Vic geht es nicht gut. Das frühere Markenzeichen von Las Vegas, ein zwölf Meter großer Neon-Cowboy, der seit 1951 in der Fremont Street hängt, ist kaputt und leuchtet weder noch wedelt er mit seinem Arm. Ohne Licht sieht er aus wie ein Zombie. Sein weibliches Gegenstück, Vegas Vickie, knapp dreißig Jahre später an einem Stripclub montiert, erstrahlt dagegen frisch saniert in neuem Licht, hängt nun aber im Circa. Die beiden wurden übrigens 1994 im Zuge der Umgestaltung der Fremont Street (zwangs)verheiratet und leben nun getrennt, sie hat ein Facelifting bekommen, er sieht ziemlich blass und einsam aus. Vielleicht hat er ein Alkoholproblem. Irgendwie traurig.

Weil unsere Freundin am nächsten Tag wieder abreisen musste, haben wir unser geplantes Abschiedsessen im Wicked Spoon vorgezogen. Für uns ist es immer noch das beste Buffet in Las Vegas, wenn auch nicht gerade preiswert. Aber dafür wird einem eine Menge geboten, vor allem wenn man zum Ende der Frühstückszeit kommt und sowohl Breakfast als auch Lunch mitnimmt. Die Portionen sind immer noch winzig, was einem mehr Gelegenheiten zum Probieren gibt (man kann auch teilen und dadurch noch mehr testen), und es gibt immer etwas Neues zu entdecken. Meine Favoriten heuer waren ein Hirse-Apfel-Salat und Klassiker wie Lachs und Shrimps and Grits. So experimentierfreudig wie früher sind sie leider nicht mehr, aber die Qualität stimmt nach wie vor.

Auf dem Weg zurück zu unserem Parkplatz sind wir häufig durch Hotels gegangen, um uns abzukühlen, und in der Piano Bar des Harrahs sind wir durch Zufall auf einen Elvis-Imitator gestoßen, der gerade ein Konzert gab und Viva Las Vegas sang. Es war der fette Elvis, und er saß leider mit dem Rücken zu uns hinter einer Brüstung, so dass ich nur seine Perücke und hin und wieder seine ringgeschmückten Hände sehen konnte, aber dennoch war es ein besonderer Moment.

Unseren letzten Tag in Las Vegas haben wir ganz gemütlich verbummelt. Wir haben noch die Hitze hier in der Wüste, Burger und Milk Shakes genossen, haben uns Bros angesehen und einen letzten Spaziergang auf der Fremont Street unternommen. Wir kamen gerade rechtzeitig zur Shakira-Show auf der Leinwand über der Straße, die ganz nett gemacht war. Ansonsten traten vor allem Rock-Bands auf sowie eine tanzende, mit Tüchern und Reifen wirbelnde DJane. Nach dieser Woche ist mein Gehör sicherlich ein bisschen schlechter geworden. Man kann sich übrigens nicht nur mit leicht bekleideten jungen Menschen fotografieren lassen, sondern auch mit Figuren aus diversen Horrorfilmen, die oft in Gruppen zusammenstehen. Nur mit Batman wollte sich keiner knipsen lassen, was vielleicht auch daran lag, dass er ziemlich korpulent war und nicht getanzt hat. Möglicherweise sollte er an einen Karrierewechsel denken, fat Elvis statt Fatman.

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Mark G. & Pi Jay in La-La-Land 2022 und verschlagwortet mit , von Pi Jay. Permanenter Link zum Eintrag.

Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.